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Fotokritik

 

Timm Starl
„Gerti Deutsch of Vienna“

Die Fotografin Gerti Deutsch
Arbeiten 1935 – 1965
Vorwort von Wolf Suschitzky, Biografie von Amanda Hopkinson, Text von Sabine Coelsch-Foisner, Bildauswahl und Kommentare von Kurt Kaindl
hrsg. von Kurt Kaindl
Salzburg: Edition Fotohof, 2011
25 x 21,5 cm, 142 S., 150 Abb. in Farbe
Broschiert
€ 29,-

Sie ist Österreicherin, kommt im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als Tochter wohlhabender Eltern zur Welt und erlebt ihre Jugend in einer bürgerlichen Familie in Wien. Zunächst einen musikalischen Beruf anstrebend, beginnt sie in den 1930er Jahren zu fotografieren, lebt einige Jahre in Frankreich und emigriert gegen Ende des Jahrzehnts ins englischsprachige Ausland, wo sie als Fotografin reüssieren kann. Ihre Motive sucht sie häufig auf den Straßen der Großstädte. Nein, es handelt sich nicht um die in Fotokreisen sattsam bekannte Lisette Model (1901–1983), sondern um die bislang in den Fotogeschichten kaum beachtete Gerti Deutsch. Dass die Parallelen in den Biografien nicht aufgetan werden, liegt an den Autorinnen, die sich in der vorliegenden Publikation mit Leben und Werk der Fotografin beschäftigen.
            Sie blicken nicht über ihren Gegenstand hinaus und übersehen die vielfältigen sozialen und kulturellen Entsprechungen in den Lebensläufen jüdischer Fotografinnen in der Zwischenkriegszeit, wie sie bereits in diversen Veröffentlichungen dargestellt worden sind. Vielmehr wird eine geradezu typische Erscheinung als einzigartig herausgestellt. Dies mag daran liegen, dass die beiden Verfasserinnen der Texte als Literaturwissenschaftlerinnen tätig sind beziehungsweise waren und Amanda Hopkinson zudem die Tochter von Gerti Deutsch ist. Damit eröffnen sich andere Zugänge und Aussichten, was durchaus Vorteile mit sich bringt. Weil umfangreiches persönliches Daten- und Bildmaterial ausgebreitet wird, erhält die Fotografin neben ihrem professionellen Habitus auch private Züge. Und Sabine Coelsch-Foisner wendet sich vornehmlich den Notizen zu, die Deutsch zu den Modellen und Objekten auf den Aufnahmen verfasst und auf den Rückseiten der Abzüge festgehalten hat. Den bildlichen Auffassungen ihrer Gegenüber stehen demnach schriftliche Kommentare zur Seite.

 

Gerti Deutsch: Aus dem Musterbuch der Fotografin, 1930er Jahre Gerti Deutsch: Aus dem Musterbuch der Fotografin, 1930er Jahre
Gerti Deutsch: Aus dem Musterbuch der Fotografin, 1930er Jahre (S. 39 und 41)

 

           Dagegen bleibt der fotografische Part etwas unterbelichtet, es werden falsche Angaben gemacht und seltsame Einschätzungen vorgetragen. Beispielsweise wird das Todesjahr der Wiener Fotografin Trude Fleischmann um eine Dekade zu spät notiert (13), und einige historische Unkenntnis verrät der Satz: „Mit der Erfindung der Leica 1925 wurde die Straßenfotografie geboren.“ (8) Obwohl dieses Genre mit dem Aufkommen der Momentkameras in den 1880er Jahren bereits seinen Anfang genommen hat. Auch für ästhetische Zuweisungen fehlt das notwendige Instrumentarium, weshalb die gestalterischen Ansprüche der Fotografin nur ungenügend erfasst werden können. Welche kunstkritischen Vorstellungen bewegen Hopkinson, wenn sie die Meinung äußert, dass „die surrealistischen Bilder [...] typisch für das Bauhaus waren“? (9)
           Die Beiträge von Kurt Kaindl entschädigen ein wenig für manch kuriose Behauptung – allerdings auf einer anderen Ebene –, wenn er neben anderem nicht realisierte Buchprojekte präsentiert sowie Fotos einbringt, die im Zuge von Reportagen angefertigt, aber von der Redaktion bei der Veröffentlichung nicht berücksichtigt worden sind. Als Herausgeber hätte Kaindl allerdings die fotohistorischen Fehler sowie die zahlreichen Wiederholungen nicht durchgehen lassen sollen. Dass die Fotografin 1938 den Chefredakteur Tom Hopkinson heiratet und 1950 von ihm geschieden wird, sind nur einige der Lebensdaten, die mehrfach angeführt werden.

 

Gerti Deutsch: Kriegsheimkehrer in Wien, 1948 Gerti Deutsch: Die Choreografin Grete Wiesenthal an der Jedermann-Bühne in Salzburg, 1958
Gerti Deutsch: Kriegsheimkehrer in Wien, 1948 (S. 78) Gerti Deutsch: Die Choreografin Grete Wiesenthal an der Jedermann-Bühne in Salzburg, 1958 (S. 107)

 

           Gerti Deutsch wird 1907 in Wien geboren, erhält eine Ausbildung als Pianistin, geht für zwei Jahre nach Paris, besucht nach ihrer Rückkehr die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien im Schuljahr 1933/34, arbeitet zunächst mit Edeldruckverfahren, porträtiert bekannte Künstler und Künstlerinnen, übersiedelt 1936 nach England, gründet im Jahr darauf ein Atelier in London und firmiert unter „Gerti Deutsch of Vienna“ (11), arbeitet als Fotografin für die Picture Post und veröffentlicht von 1938 bis 1950 64 Bildessays für die Illustrierte, produziert in den 1950er und 60er Jahren Reisereportagen, arbeitet aber vorwiegend bei Hochzeiten und gesellschaftlichen Anlässen, gibt Ende der 60er Jahre die Fotografie auf und kehrt nach Österreich zurück, stirbt 1979 im englischen Leamington Spa.
            Deutsch fotografiert ebenso prominente wie unbekannte Zeitgenossen, die Berühmtheiten bei den Salzburger Festspielen, die Kriegsheimkehrer 1948 auf dem Wiener Ostbahnhof, folkloristische Darbietungen in einem Tiroler Dorf, schlafende Menschen auf Parkbänken, Kinder beim Zeichnen, Yehudi Menuhin beim Violinspiel in den Ferien, Oskar Kokoschka beim Unterricht an der Salzburger Sommerakademie. Es handelt sich durchwegs um Augenblicksstudien, zu denen die Akteure aufmerksam beobachtet und mitten ins Bild gesetzt werden. Haltung und Gestik verraten, worum es geht, was die Modelle bewegt. Man merkt das Interesse der Fotografin an ihren Themen, die Neugier gegenüber unbekannten Territorien. Wir werden konfrontiert mit einer guten und anspruchsvollen Reportagefotografie, die immer auch einzelne hervorragende Kreationen hervorzubringen imstande ist.

Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

August 2011

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© Timm Starl 2011

PDF - 250kb

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