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Fotokritik

 

Timm Starl
Kunstfotografische Verklärungen

Erwin Raupp
Moravská Hellas 1904 | Mährisches Hellas 1904 | Moravian Hellas 1904
Ausstellungskatalog Mährisches Landesmuseum, Brünn
Brno: Studio JB, 2010
32,5 x 23,4 cm, 238 S., 2 Bl., 435 Abb., davon 319 in Farbe
Gebunden, Schutzumschlag
€ 58,-

Je stärker der industrielle Fortschritt gegen Ende des 19. Jahrhunderts den urbanen Alltag bestimmte, desto mehr suchten die Bewohner in der Freizeit dem lauten und hektischen Treiben in den Städten zu entkommen. Sie fuhren am Wochenende und zur Sommerfrische aufs Land und in die Berge. An den bäuerlichen Gepflogenheiten gefiel ihnen das beharrliche Festhalten an den Traditionen der Vorfahren, in der weitgehend ungeteilten Arbeit und im Zusammensein mehrerer Generationen unter einem Dach entdeckten sie ursprüngliche Lebensformen. Dieser idyllisierenden Sichtweise entsprach eine gleichzeitig aufkommende Bildwelt. Die knipsenden Urlauber schufen sich Erinnerungsstücke und machten sich die fremde Welt in kleinen Abzügen vertraut. Die kunstsinnigen Amateure, die ihre Werke in Klubs herumreichten und auf Ausstellungen präsentierten, wählten vielfach dieselben Motive und richteten ihre Kamera auf die unberührte Natur und stille Winkel, auf einsame Dörfer und deren Bewohner. Die Verklärung von Personen und Objekten wurde noch verstärkt, indem man unscharfe Wiedergaben bevorzugte und diese oftmals farblich überarbeitete. Mit Anklängen an die impressionistischen Vertreter der Malerei orientierten sich diese piktorialistischen Fotokünstler an überkommenen Darstellungsweisen.
            Doch auch manch ein Berufsfotograf übernahm in den Jahren um 1900 motivische und insbesondere gestalterische Elemente von den Liebhaberfotografen. Solche Atelierbesitzer statteten ihre Modelle mit undeutlichen Konturen aus und zogen eine stimmungsvolle Inszenierung der präzisen Aufzeichnung vor. Erwin Raupp (1863­–1931) gehörte zu jener professionellen Gilde, betrieb Anfang der 1890er Jahre ein Atelier in Dresden, wo er seine Kunden in der gängigen Art vor den Kulissen und neben den Versatzstücken mit bürgerlichen Attributen ablichtete. 1896 erhielt er von öffentlichen Stellen den Auftrag, die sorbischen Trachten an der Niederlausitz zu dokumentieren. Die Bilder dieser Werkgruppe haben sich ebenso wenig erhalten wie die Negative der 1904 in der mährischen Slowakei angefertigten Aufnahmen von Einwohnern und deren Bräuchen. In den folgenden vier Jahren schuf der Fotograf Vergrößerungen, wovon sich ein Bestand im Mährischen Museum in Uherské Hradišté erhalten hat. Dieses Konvolut ist Gegenstand der vorliegenden Veröffentlichung, wobei den Autoren und Autorinnen nicht zuletzt daran gelegen war, die bislang allein ethnografische Beachtung hinter sich zu lassen und die Arbeiten als fotokünstlerische Leistungen neu einzuordnen.

 

Erwin Raupp: Mädchen vor der Schule in Javornik, 1904 Erwin Raupp: Frauengruppe vor der Antoniuskapelle (?), 1904
Erwin Raupp: Mädchen vor der Schule in Javornik, 1904, Ausarbeitung 1907 (S. 79) Erwin Raupp: Frauengruppe vor der Antoniuskapelle (?), 1904, Ausarbeitung 1907 (S. 85)

 

           Die inhaltliche Palette der Bilder entspricht weitgehend dem Repertoire des Touristen, der den Umzügen an den Festtagen zusieht, sich an den bunten Trachten der Teilnehmer erfreut, diese beim Gebet und beim Tanz beobachtet sowie Blicke auf markante Gesichter, Kinder beim Baden, spinnende Bauernfrauen und Männer mit Pferden wirft. Die als Gummidrucke oder Gelatineabzüge ausgearbeiteten Aufnahmen sind in unterschiedlichen Tönen gehalten, wobei gelbliches bis rötliches Braun dominiert und nur gelegentlich Grün verwendet wird. Man erhält einen guten Überblick, zumal sämtliche 274 Fotografien im Format von etwa 8 x 6,5 cm und in Farbe sowie eine Auswahl von 40 Exemplaren ganzseitig wiedergegeben sind. Mehrere Texte rekonstruieren die Umstände, unter denen Raupp in Mähren tätig gewesen ist, identifizieren seine Begleitperson als heimatkundlichen Fachmann, verfolgen den Werdegang des Fotografen, der um 1907 nach Berlin und 1912 nach Darmstadt übersiedelte. Nachdem nicht allzu viel biografisches Material überliefert ist, war man vielfach auf die Möglichkeitsform angewiesen, was Andreas Krase zum Ausdruck brachte, wenn er seinen Beitrag mit „Einige Vermutungen über Erwin Raupp“ betitelte.
            Solche Zurückhaltung hat sich Antonín Dufek nicht auferlegt, ganz im Gegenteil: Der bekannte, in Brünn wirkende Fotohistoriker hebt seinen Protagonisten in den Himmel der Fotokunst und der volkskundlichen Dokumentation. Kaum eine bekannte Figur wird bei den Vergleichen ausgelassen – angeführt seien hier nur die Kunstfotografen Heinrich Kühn und die Brüder Oscar und Theodor Hofmeister, die Atelierfotografen Nicola Perscheid und Rudolf Dührkoop, ferner Paul Strand, Alwin Langdon Coburn, André Kertesz. Wenn aber das Schaffen eines Fotografen mit nahezu jedem anderen vergleichbar ist, so verliert sich das Eigene, Spezifische. Das Besondere an Raupps Aufnahmen liegt nämlich nicht in außergewöhnlichen Kompositionen, auch nicht in der Wahl der Sujets, sondern in der Beschränkung auf die Bevölkerung einer Region und in dem engen Blickwinkel, mit dem deren Eigenheiten charakterisiert werden sollen.

 

Erwin Raupp: Mädchen mit Kopftuch aus Javornik, 1904 Erwin Raupp: Der Zigeuner Kubik, Geiger der Spielleute, 1904
Erwin Raupp: Mädchen mit Kopftuch aus Javornik, 1904, Ausarbeitung 1905 (S. 104) Erwin Raupp: Der Zigeuner Kubik, Geiger der Spielleute, 1904, Ausarbeitung 1906, Gummidruck (S. 105)

 

           Bemerkenswert ist nämlich, dass sich der Lichtbildner nicht für die dörfliche Architektur und die landschaftlichen Gegebenheiten interessiert hat, auch nicht in die Wohnräume und Stallungen gegangen ist, vielmehr das Augenmerk auf besondere Anlässe gerichtet, aber nur wenig von den alltäglichen Verrichtungen festgehalten hat. Erwähnenswerter als die Hinweise auf Kollegen im In- und Ausland scheint mir die reduzierte Sicht eines Städters auf die Landbevölkerung, die ein nur unvollständiges und oberflächliches Porträt der Menschen und ihres Daseins liefert. So wirken die immer gleichen Trachten und Gruppierungen, die meist herben Gesichtszüge der jungen Frauen und alten Männer recht einförmig, was mit den Nuancierungen in der Farbgebung nicht wettgemacht werden kann. Und die vielen Worte der Interpreten vermögen den geringen Gehalt der Bilder nicht zu übertönen.

Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

August 2011

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© Timm Starl 2011

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