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Fotokritik

 

Timm Starl
Ein „architektonisches Palimpsest“
Vom Umgang mit der Geschichte einer Wohnsiedlung

Reinhard Matz / Andreas Schwarting
Das Verschwinden der Revolution in der Renovierung oder
Die Geschichte der Gropius-Siedlung Dessau-Törten (1926–2011)
Berlin: Gebr. Mann Verlag, 2011
17,5 x 24,4 cm, 160 S., 173 Abb, davon 104 in Farbe
Gebunden
€ 29,-

1991 schlug der Künstler Rudolf Herz vor, das große Lenin-Denkmal vor dem Dresdener Hauptbahnhof, das abgerissen und entfernt werden sollte, in seine ursprünglichen Bestandteile zu zerlegen und diese verstreut liegen zu lassen. Die Blöcke hätten an die ursprüngliche ideologische Funktion in der DDR erinnert und zugleich ihre Aufhebung proklamiert. Wären die Teile nicht aus dem urbanen Blickfeld verschwunden, hätten Geschichte und Gegenwart ein gemeinsames Gesicht erhalten. Auch eine gewisse Unsicherheit wäre zum Ausdruck gekommen, denn ein späteres Entfernen der großen Stücke hätte ebenso im Bereich des Möglichen gelegen wie ein Zusammensetzen. Das Projekt wurde nicht realisiert. Die Verantwortlichen der Stadt meinten offenbar, eine historische Epoche könne gewissermaßen samt ihrer Ideologie entsorgt und damit eine Auseinandersetzung mit ihr überflüssig werden.
            Der Fotograf Reinhard Matz hat mit Rudolf Herz an mehreren Unternehmungen gearbeitet und sich auch in eigenen Vorhaben immer wieder mit der Sichtbarmachung von Geschichte beschäftigt. Gemeinsam mit dem Architekten und Bauforscher Andreas Schwarting legt er nun eine Publikation vor, die das Werden einer Wohnsiedlung seit den 1920er Jahren zum Thema hat. 1926 bis 1928 nach Entwürfen des Bauhausgründers Walter Gropius errichtet, umfasste der Komplex 314 Einfamilien-Reihenhäuser mit sechs unterschiedlichen Typen, die eine Wohnfläche zwischen 57 und 74 qm aufwiesen. Der Anspruch in ökonomischer Hinsicht bestand in der Verwendung standardisierter, vorgefertigter Bauteile, in ästhetischer Hinsicht in einer so modernen wie einfachen Gediegenheit, der soziale Anspruch lag in der Schaffung billigen Wohnraums als Eigentum für weniger betuchte Familien der Mittelschicht.

 

Unbekannter Fotograf: „Kleinring 15–19“, um 1929 Michael Siebenbrodt: „Beginn der Doppelreihe“, um 1986
Unbekannter Fotograf: „Kleinring 15–19“,
um 1929 (S. 28)
Michael Siebenbrodt: „Beginn der Doppelreihe“, um 1986

 

            Bereits vor Baubeginn verlautete aus Fachkreisen Kritik an den Entwürfen, zum einen wegen der gestalterischen Linie des Neuen Bauens, aber auch wegen bauphysikalischer Mängel. Stärker wog die rasch auftretende Unzufriedenheit der Bewohner, die im Laufe der Jahre unter anderem zu Veränderungen an den Außenfronten führte. Zunächst erhielten manche Eingangsbereiche zum Schutz gegen Witterungseinflüsse Vordächer, bald erfolgte in einigen Häusern der Einbau neuer Fenster mit Holzrahmen. Diese waren nicht nur kleiner und schlossen dichter als die großflächigen Stahlfenster, sie wurden auch tiefer angesetzt, weil sich die 1,40 Meter hohe Brüstung als unpraktisch erwiesen hatte. Vereinzelt entstanden aus manchen Wohnräumen kleine Geschäfte, bevor 1929 im Zentrum der Siedlung eine Verkaufsstelle des Konsums errichtet wurde.
            Im Zweiten Weltkrieg fielen 25 Häuser einem Luftangriff zum Opfer und zahlreiche wurden stark beschädigt. Die Ausbesserungen sowie andere Veränderungen und Ergänzungen – so die Errichtung von Garagen im Gartenbereich – in den Jahren der DDR erfolgten nach der Maßgabe beschaffbarer Materialien. 1977 stellten die Behörden die Siedlung unter Denkmalschutz, ohne zugleich verbindliche Richtlinien zu erlassen. Nach 1989 führte die Verfügbarkeit von Baustoffen und Isoliermaterial, aber auch ein gestiegenes Bedürfnis nach Selbstdarstellung der Hausbesitzer zu weiteren starken Umformungen, insbesondere was die Gestalt und Farbe der Fassaden angeht. Die 1994 von der Stadt Dessau erlassene Erhaltungs- und Gestaltungssatzung enthielt vereinheitlichende Vorgaben, was die Lust an Umgestaltungen eindämmte. Bis auf punktuelle Rekonstruktionen gleicht allerdings heute kein Haus dem ursprünglichen Zustand.
            Nun sind Matz und Schwarting nicht den Versuchungen mancher Herausgeber von Bildbänden und Architekturgeschichten erlegen und haben die Doppelseiten mit Vorher/Nachher-Bespielen bestückt, also das Aussehen nach Fertigstellung in den 1920er Jahren jenem von heute gegenübergestellt. Die oft recht eigenwilligen Kreationen der Bewohner an den Häuserfronten sowie im Vorgarten- und Eingangsbereich hat man nicht als ästhetische Verirrungen abgetan oder bildlich besonders herausgestellt, sondern als „authentische[r] Lebensäußerungen“ (13) verstanden und entsprechend in den textlichen und bildlichen Ausführungen behandelt.

 

Reinhard Matz: “Mittelring 71“, 2007 Reinhard Matz: Garten, 2007/10
Reinhard Matz: “Mittelring 71“, 2007 (S. 75) Reinhard Matz: Garten, 2007/10 (S. 150)

 

            Die Herausgeber identifizierten nämlich die Siedlung als „architektonisches Palimpsest“ (Schwarting, 43) und gewährten dem heutigen Auftreten denselben Rang wie früheren Zuständen, denen man aufmerksam nachging. Entsprechend finden sich in dem Band Fotografien, die den Baufortschritt und die fertiggestellten Häuserreihen zeigen, sowie solche aus den folgenden Jahrzehnten bis in unser Jahrhundert. Zu sehen sind einzelne Gebäude und Straßenzüge, bevölkerte und menschenleere Szenarien, manchmal Details an den Fassaden und in den Gärten, selten Innenansichten. Eingestreut wurden zudem einige Zeitungsausschnitte und Konstruktionszeichnungen. Neben ungenannten Fotografen und Knipsern zeichnen wenig bekannte Lichtbildner, aber auch prominente wie Joachim Brohm als Bildautoren. Die meisten Abbildungen gehen auf Reinhard Matz zurück, der sich in den Jahren 2007 bis 2010 ebenso nüchtern wie interessiert seinen Objekten näherte.
            Der Aufsatz von Andreas Schwarting verfolgt die Geschichte der Siedlung unter dem Aspekt des architektonischen und ästhetischen Wandels und seiner Hintergründe. Regine Eichhorn befragte 54 Einwohner danach, wie es sich heute lebt in Haus und Garten. Ruggero Tropeano mutmaßt über Möglichkeiten zukünftiger Denkmalpflege. Hinter allen Beiträgen und Abbildungen steht das Bemühen, die 80 Jahre Baugeschichte sichtbar zu machen und keiner Epoche den Vorzug zu geben. Die jeweiligen Veränderungen werden nicht gewichtet oder gegeneinander ausgespielt, sondern dahingehend analysiert, auf welchen Ansprüchen und Bedürfnissen der Bewohner, Architekten und Denkmalpfleger sie gründeten. Die Geschichte, wie sie in Text wie Bildern präsentiert wird, besteht nicht in der Projektion heutiger Einsichten in die Vergangenheit und die Bewertung des Gewesenen nach den gerade geltenden Maßstäben, sondern in der kritischen Auswahl von historischen Belegen und der Schaffung von aktuellen Zeugnissen, mit denen die Phasen der Veränderung in ihren Ursachen und Wirkungen deutlich gemacht werden können. Geschichte bleibt zwar immer ein Entwurf eines Heute, aber es kommt darauf an, mit welchem Material und welchen Kommentaren ein Konstrukt errichtet wird. Die vorliegende Veröffentlichung ist ein exzellentes Beispiel gelungener historischer Aufarbeitung.

Bei der Abbildung handelt es sich um eine Wiedergabe aus der besprochenen Veröffentlichung.

April 2011

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© Timm Starl 2011

PDF - 183kb

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