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Fotokritik

 

Timm Starl
„How the Other Half Lives“
Soziale und historische Perspektiven

Rudolf Stumberger
Klassen-Bilder
Sozialdokumentarische Fotografie 1900–1945
(Band 1 der Schriftenreihe des Instituts für Sozialdokumentation München)
Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft, 2007
23,9 x 16,9 cm, 288 S., 112 SW-Abb.
Broschiert
€ 29,-

Rudolf Stumberger
Klassen-Bilder II
Sozialdokumentarische Fotografie 1945–2000
(Band 2 der Schriftenreihe des Instituts für Sozialdokumentation München)
Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft, 2010
23,9 x 15,3 cm, 311 S., 67 SW-Abb.
Broschiert
€ 34,-

Der Begriff der sozialdokumentarischen Fotografie ist eine Erfindung der 1970er Jahre, mit dem Bilder aus der Welt unterprivilegierter Schichten kategorisiert werden. Der neue Terminus exzerpierte einen Bereich aus dem Feld der dokumentarischen Fotografie, die seit den 1930er Jahren als Gattung geläufig ist, aber keine klare Definition kannte. Die einen sahen in ihr eher die Auffassung eines Themas, andere mehr die Form der Umsetzung in bildliche Belege. Mit der Herausstellung einer sozialdokumentarischen Fotografie wurde diese Ambivalenz zwar nicht aufgehoben, aber zumindest ein Teilbereich abgegrenzt und dessen Hervorbringungen beliebiger Zuordnung entzogen.
           Die Begriffsbildung in jenen Jahren entsprach einer Tendenz in den Wissenschaften, die sich zunehmend der Geschichte und Gegenwart des Alltags menschlichen Daseins zuwendeten. So fragten beispielsweise Volkskundler nach dem Schicksal der Auswanderer, nahmen Literaturwissenschaftler die Romane eines Karl May unter die Lupe, und Kunsthistoriker beschäftigten sich mit naiver Malerei. Zudem befand sich die Kunstgeschichte in einer Phase selbstkritischer Infragestellung und suchte nach einer Aktualisierung in der Erweiterung ihres Terrains. Diese fand man in der Fotografie, die sich allerdings mit dem überkommenen Instrumentarium nicht fassen ließ. Wie in der Vergangenheit stilistische Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zu diversen Ismen gruppiert und mit der Etikettierung zugleich die Bedingungen außerhalb des Kunstkontextes umgangen wurden, subsumierte man unter sozialdokumentarischer Fotografie ganz unterschiedliche Motive, ohne auf die Umstände, die zu den Bildschöpfungen führten, näher eingehen zu müssen. Auch konnten der eine oder andere Fotograf und einzelne Bilder allein aufgrund ihrer kompositorischen Fähigkeiten und ästhetischen Qualität in die Hierarchie bemerkenswerter Künstler und Werke eingereiht werden.
           Nicht zuletzt richteten kritische Köpfe im bundesrepublikanischen Deutschland nach 1968 ihre Aufmerksamkeit gerne auf die Arbeiterschaft und die städtischen Randgruppen der Gesellschaft. Beispielsweise verschaffte sich die Kunsthistorikerin Gesine Asmus anhand eines fotografischen Bestandes Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901–1920 und legte dazu eine Publikation vor. Davor waren Kollegen aktiv geworden und hatten mit Foto-Essays und Beiträgen zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie das Medium für ihre Disziplin reklamiert. Winfried Ranke versuchte sich 1977 in einer Bestimmung der sozialdokumentarischen Fotografie, nachdem er in gezeichneten und gestochenen Straßenszenen und Genredarstellungen ausreichend Vorbilder in der bildenden Kunst ausgemacht hatte.
           Zwar fanden in der Folge manche Protagonisten Eingang in die Übersichtsdarstellungen zur Fotografiegeschichte, jedoch wurden sie zumeist mit immer denselben Bildern zitiert und als solitäre Erscheinungen herausgestellt, wobei entweder die gestalterischen Belange oder das ‘exotische’ Milieu den Ausschlag gaben. Worauf die Initiativen für die Fotoprojekte jeweils gründeten, welche Beziehungen zwischen den Fotografen und ihren Modellen bestanden, welchen Kreis die Bildprodukte erreichten und welchen Interessen sie dienten – solche Fragen wurden nicht oder nur in Ausnahmefällen gestellt. Jedenfalls liegt bis heute keine zusammenhängende Darstellung der sozialdokumentarischen Fotografie vor.
           Diesem Manko wollte Rudolf Stumberger begegnen, indem er einen Geschichtsentwurf in Angriff nahm, deren erster Teil 2005 als Habilitationsschrift angenommen wurde. Dem Thema widmete sich der Autor „unter dem Blickwinkel der Soziologie“ (I, 7), wobei er sich zum guten Teil an den Schriften des französischen Soziologien Pierre Bourdieu orientierte, die dieser unter anderem 1965 zu den „sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie“ und 1979 zu den „feinen Unterschieden“ in den kulturellen Vorlieben und Praktiken vorgelegt hatte. Insbesondere machte er sich dessen Überzeugung zu eigen, dass die Wahrnehmung des Selbst und des Anderen in der menschlichen Gesellschaft jeweils von klassifizierenden Elementen bestimmt ist, mit denen die Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Gruppierungen geführt werden und deren Wertungen auf Veränderungen der gegebenen Umstände abzielen. „Der allgemeine Zweck der sozialdokumentarischen Fotografie war die Überwindung der im Bild dargestellten sozialen Sachverhalte [...]“ (I, 220).
           Stumberger kennt aber auch den Standort des Praktikers, der von 1998 bis 2004 an dem Projekt „Menschen hinter Glas“ mitgearbeitet hatte, das „arbeitende Menschen im Kontext von architektonischen Strukturen“ untersuchte und nach seiner Einschätzung als ein „Versuch einer ‘neuen’ sozialdokumentarischen Fotografie an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert“ (I, 7) verstanden werden soll. Die Möglichkeit zweifacher Perspektive führte ebenso zu komplexen Betrachtungsweisen, wie die unverhohlene Sympathie des Verfassers für die traditionelle Linke nicht selten zu eigenwilligen Einschätzungen verleitete, worauf noch einzugehen ist.
           Entschieden wendet sich Stumberger gegen die gängigen Analysen, die sich mit dem biografischen Werdegang der Fotografen sowie der Interpretation und dem Vergleich von Bildentwürfen begnügen. Denn dann „schiebt sich das Bild [...] derart in den Vordergrund, dass es den Hintergrund vergessen lässt. Der Hintergrund des Bildes liegt im Schatten des Lichtes, in dem sich der Bildinhalt sonnt [...] Was ist nun dieser Hintergrund? Er ist nichts anderes als die Summe der Entstehungs- und Seinsbedingungen der Bilder [...]“ (I, 20). Deshalb sei gleichermaßen den „ökonomischen (wer bezahlt den Fotografen?), ideologischen (was für ein soziales Verständnis von Welt steht hinter dem Fotografen?), organisatorischen (durch welche Gruppe, Partei, Staatsagentur?), inhaltlichen (welche soziale Klasse wird dargestellt?), funktionalen (warum und zu welchem Zweck?) und medialen Bedingungen (warum Fotografie?)“ (I, 35) der Projekte nachzugehen.
           Diesem umfassenden Anspruch konnte der Autor schon wegen der unterschiedlichen Quellenlage nicht in gleichem Umfang entsprechen. Vor allem lassen sich zwischen den allgemeinen wirtschaftlichen Gegebenheiten, der Struktur und der Form der einzelnen Projekte und ihrer öffentlichen Wirkung kaum schlüssige Abhängigkeiten feststellen. Die Leser haben demnach da und dort noch weitere Überlegungen anzustellen, um diverse Hintergrundinformationen zu verknüpfen oder auch zu ergänzen, was jedoch die Lektüre der beiden Bände einerseits beeinträchtigt, aber auch spannend macht.
           Stumberger geht chronologisch vor und verfolgt zunächst die bekannten Projekte von Jakob A. Riis in den New Yorker Slums der 1880er und 90er Jahre, von Hermann Drawe 1904 in den Kanälen Wiens sowie von Lewis W. Hine in den Stahlwerken von Pittsburgh und anderen Fabrikationsstätten der 1900er Jahre und danach. Als Ursache werden nicht nur die Arbeitslosigkeit und Verelendung mancher Schichten in den Großstädten und die Arbeitsbedingungen von Erwachsenen und Kindern in den Industriebetrieben angeführt und mit Zahlen untermauert, sondern auch die sozialreformerischen Ideen der Fotografen und beteiligten Wohlfahrtsorganisationen angesprochen. Desgleichen werden die Vorgehensweisen der Fotografen und die Mittel und Methoden der Verbreitung des Bildmaterials über Vorträge, Buchveröffentlichungen und Presseberichte angeführt. Gemein ist diesen Aktionen, dass sie von Einzelpersonen bürgerlicher Herkunft betrieben und in Institutionen und Medien derselben Ausrichtung zur Anschauung gebracht wurden.
           Demgegenüber ging nach dem Ersten Weltkrieg die Initiative von staatlichen Stellen oder politischen Parteien aus, die allerdings unterschiedliche Ziele verfolgten. In der Sowjetunion sollte der Arbeiter als wesentliche gesellschaftliche Kraft und Garant des Fortschritts institutionalisiert und zugleich sollten der Aufbau und die Leistungen des Sozialismus ins Bild gesetzt werden. In den USA war es im Zuge des New Deal Aufgabe der von der Regierung beauftragten Farm Security Administration (FSA), die Lage der verarmten Farmer und Wanderarbeiter offenkundig zu machen. Die deutschen Arbeiterfotografen standen zumeist der Kommunistischen Partei nahe oder waren deren Mitglied und verfügten um 1930 mit der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung als zweitgrößte Illustrierte im Land über ein mächtiges Podium. Propagiert wurde eine proletarische Sichtweise, die ihr Augenmerk auf die Situation der werktätigen Bevölkerung und die Ausbeutung durch die besitzende Klasse richten sollte. Je nach der politisch-ökonomischen Zielsetzung in den jeweiligen Staaten war der Blick mehr in eine bessere Zukunft gerichtet, oder es lag der Schwerpunkt auf der Aufdeckung aktueller Missstände.
           Schließlich werden von Stumberger „weitere fotografische Abbildungsprojekte der Arbeiterklasse in Europa der 1930er Jahre“ kurz vorgestellt (I, 148). Neben solchen in England und Frankreich findet die Bildserie zu den „Menschen des 20. Jahrhunderts“ von August Sander Berücksichtigung (I, 149 f.), obwohl sie mit ihrer ständischen Orientierung weder in konzeptioneller Hinsicht in den Kanon sozialdokumentarischer Fotografie passte, noch in ihren kompositorischen Belangen Einfluss auf deren Vertreter zeitigte. Obwohl die Bestimmung eines Genres durchaus auch darüber erfolgen kann, was nicht dazu gehört, erhält man im gegebenen Fall den Eindruck, dass mit dem prominenten Fotografen und seiner unkritischen Haltung in sozialen Belangen eine Art Gegenfigur eingebracht wurde, um später zu dem Schluss zu gelangen: „Nur das „proletarische Abbildungsprojekt“ der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung sei „in der Lage, visuell den Gegensatz und Spannungsbogen zwischen dunkler Gegenwart und lichter Zukunft, zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu formulieren.“ (I, 173). Wenn sich dieser Befund auf die redaktionelle Gegenüberstellung von Bildern sozialer Kämpfe in der Weimarer Republik und den Bildberichten vom Aufbau in der Sowjetunion stützt, so geht es dabei nicht um die Produktion und Machart der Fotografien, sondern um den Gebrauch von Aufnahmen unterschiedlicher Herkunft und Tendenz.
           In dem umfangreichen Abschnitt zu den „Konstitutionsbedingungen sozialdokumentarischer Fotografie“ (I, 159 bis 216) bringt der Autor mehrere schematische Darstellungen ein, in denen die Differenzen der Projekte zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und den 1930er Jahren anschaulich gemacht werden. Es zeigt sich nämlich, dass lediglich die nahezu zeitgleichen Aktivitäten von Riis und Drawe stärkere Gemeinsamkeiten aufweisen. Doch das kann nicht verwundern angesichts der Protagonisten vor und hinter der Kamera, deren ähnlich gelagertem Umfeld, denselben thematischen und motivischen Schwerpunkten und derselben Mittel, mit denen die Fotografien in die Öffentlichkeit gebracht wurden. Über die beiden Projekte in New York und Wien hinaus offenbart sich in dem Versuch, sämtliche Werkgruppen nach einheitlichen Kriterien zu ordnen, ein Schematismus, der nur formal die Projekte zu vereinen imstande ist. Oder anders ausgedrückt: Es erweist sich die Untauglichkeit eines Begriffes, der nicht mehr abgibt als eine Überschrift für gänzlich differente Erscheinungen, die jeweils nur durch spezifische Analysen und Zuschreibungen Konturen gewinnen.
           In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergrößert sich die Vielfalt der Projekte in erheblichem Ausmaß, was die Disposition der Bildautoren und das Dasein ihrer Modelle, die fotografischen Inszenierungen und der Gebrauch der Bildserien angeht. Und als ginge es darum, dieser Tatsache besonderen Ausdruck zu verleihen, weicht der zweite Band gegenüber dem ersten in mehreren Punkten ab. Abgesehen von einem etwas schmäleren Buchformat wurden die Abbildungen nicht mehr am Ende der Ausführungen, sondern an den entsprechenden Textstellen platziert und die erwähnten Personen in einem Verzeichnis aufgelistet, was der Lesbarkeit und Zugänglichkeit zugute kommt. Diese Neuerungen gehen zudem einher mit solchen struktureller und kategorialer Art.
           Zunächst betrachtet Stumberger die „[s]ozialdokumentarische Fotografie im ‘Goldenen Zeitalter’ 1945–1975“ (II, 23 ff.), anschließend „im Zeitalter des ‘Terrors der Ökonomie’ 1975–2000“ (II, 103 ff.), wogegen die Zeit vor 1945 einer entsprechenden Periodisierung nicht bedurfte. In dem Zeitabschnitt nach dem Zweiten Weltkrieg kommen alle möglichen Phänomene zur Sprache wie das Aufkommen des Fernsehens, die Ausstellung „The Family of Man“, und es treten Fotografen und Fotografinnen mit sehr unterschiedlichen Ansprüchen und Arbeitsweisen unter dem Titel „die ungeschönte Straßenfotografie der 1950er und 1960er Jahre“ (II, 47) auf: Robert Frank, Diane Arbus, Lee Friedlander, Jacob Holdt, Larry Clark und andere mit Ansichten aus den USA sowie der Schwede Anders Petersen mit Aufnahmen von Besuchern einer Stehbierhalle in Hamburg. Offensichtlich sind mit dem Rückgang des Anteils der körperlich arbeitenden Bevölkerung in den Industrieländern und deren gleichzeitigen Verschwinden in den Medien gewissermaßen die wichtigsten Objekte der sozialdokumentarischen Fotografie abhanden gekommen. Deren Spuren sucht Stumberger nun bei den Vertretern einer „humanistischen Fotografie“ (II, 39) wie dem Franzosen Robert Doisneau, in der Folge auch bei Fotokünstlern und -künstlerinnen bis hin zu jenen, die konzeptuell arbeiten und digitale Eingriffe vornehmen, wie Ed Ruscha, Cindy Sherman, Jeff Wall, Andreas Gursky und weiteren prominenten Bildlieferanten. Die Präsenz dieser Größen heutiger Kunstfotografie, denen mit der Wahl eines Motivs bereits Interesse an sozialen Fragen zugesprochen wird, ist umso unverständlicher, als das Fotoschaffen in der ehemaligen DDR, das den Tätigkeiten der arbeitenden Bevölkerung erhebliche Aufmerksamkeit zollte, vollkommen ausgeschlossen bleibt.
           Später werden unter der Überschrift „Die professionelle Fotografie der sozialen Welt nach 1975“ (II, 194 ff.) so unterschiedlich agierende Personen wie unter anderem Allan Sekula, Martin Parr, Günter Zint und Herlinde Koelbl zusammengeführt. Zuletzt entdeckt der Autor noch eine „neue ‘Arbeiterfotografie’ in der Bundesrepublik Deutschland“ (II, 215 ff.), stellt den gleichnamigen Verband und mit zahlreichen Bildbeispielen die Zeitschrift gleichen Titels vor, die seit 1973 erscheint; angeführt werden die Aktivitäten der DKP und die Auslassungen und Einschätzungen des marxistischen Kunsthistorikers Richard Hiepe. Den zuletzt angeführten Aktivitäten und Fotoprojekten gilt Stumbergers Sympathie, wogegen er gegenüber den anderen Projekten im In- und Ausland größere Distanz wahrt. Ein im Jahr 2000 realisiertes Fotoprojekt in Ingolstadt, an dem der Autor mitgewirkt hat, wird schließlich ausführlich vorgestellt (II, 259 bis 263).
           Wird im ersten Band noch versucht, an sämtliche Zeitabschnitte, Projekte und Personen die nämlichen Maßstäbe anzulegen, wird im zweiten Band die Zugehensweise geändert. Die Ungleichgewichtigkeit der Behandlung der Themen, der Wechsel der Kriterien der Bewertung der Projekte und Bilder, die Parteinahme für diese und jene Aktivitäten und Produkte entspricht wohl nicht den Grundsätzen wissenschaftlicher Arbeit. Stumbergers Feststellung, dass die sozialdokumentarische Fotografie „im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts [...] in einem unübersichtlichen gewordenen Terrain von Feldern mit unterschiedlichen ökonomischen Grundlagen und Sinnzusammenhängen angesiedelt“ sei (II, 1243) befreit den Verfasser nicht von einer stringenten methodischen Vorgehensweise, sondern verlangt diese erst recht.
           Die Verwendung einer Bildvorlage beziehungsweise deren unvollständige Wiedergabe erscheint mir bezeichnend für den Umgang mit historischen Daten. Eine Aufnahme von Lewis Hine von 1904 wurde einseitig beschnitten, womit der Spinnautomat nahezu vollständig aus dem Blickfeld verschwindet und der unscharfe Teil nicht erkennen lässt, wozu er gehört. Damit verliert sich auch die konkrete Arbeitssituation des Mädchens, die von der Maschine bestimmt worden ist, zugunsten einer nachträglichen Inszenierung, die nur mehr an der Porträtierung des Modells interessiert war.

 

Lewis W. Hine: „Zehnjährige Arbeiterin in einer Baumwollspinnerei in North Carolina“, 1908 Lewis W. Hine: „Girl in cotton mill“, 1909
Lewis W. Hine: „Zehnjährige Arbeiterin in einer Baumwollspinnerei in North Carolina“, 1908,
(aus: R.J. Doherty, Sozialdokumentarische Photographie in den USA, Luzern, Frankfurt/M: C.J. Bucher, 1974 [Bibliothek der Photographie, Bd. 4], Abb. 31)
Lewis W. Hine: „Girl in cotton mill“, 1909 (aus dem besprochenen Band II, S. 236)

 

          Die Verunstaltung der Vorlage steht auch für das Versäumnis, dass allzu selten auf die ästhetischen Aspekte der bildlichen Hervorbringungen eingegangen wird. Wenn Jeff Walls Inszenierungen der 1980er Jahre „ein sozialkritischer Inhalt“ attestiert wird (II, 153) und in Herlinde Koelbls Aufnahmen ein „subtiler kritischer Ton“ erkannt wird (II, 212), stellt sich die Frage, mit welchen fotografischen Mitteln denn Kritik artikuliert wird. Einmal davon abgesehen, dass es generell für die gesamte „sozialdokumentarische Fotografie“ von Interesse wäre, in welchem Verhältnis inhaltliche und gestalterische Entwicklungen zueinander stehen und aufeinander bezogen werden können. Ich denke dabei zum Beispiel an das steigende Selbstbewusstsein von Industriearbeitern seit dem 19. Jahrhundert und inwieweit diese veränderte Haltung zu anderen fotografischen Darstellungsmodi geführt hat.
           Stumbergers Verdienst liegt in den Hinweisen auf die vielfältigen Faktoren, die zu sozialen Dokumentationen führen können, das Engagement der Bildautoren beeinflussen und auf die Herstellung und Bekanntmachung der Fotografien einwirken. Damit hat er manche Aktionen und Kampagnen in ein neues Licht gestellt. In der teilweise willkürlichen Einbringung und Beurteilung von Bildleistungen nach wechselnden Kriterien hat das Genre jedoch eine nur ungenaue Bestimmung erfahren. Eine Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie steht also noch aus.

Erwähnte Literatur
Gesine Asmus (Hrsg.), Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901–1920, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1982 (rororo-Sachbuch, 7668)
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [La distinction. Critique sociale du jugement, 1979], übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987 (stw 658)
Bourdieu/Boltanski/Castel/Chamboredon/Lagneau/Schnapper, Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie [Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie, 1965], Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1981
Wolfgang Kemp, Foto-Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München: Schirmer/Mosel, 1978
Winfried Ranke, „Zur sozialdokumentarischen Fotografie um 1900“, in: Keller/Molderings/Ranke, Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Gießen: anabas, 1977, S. 5-36
Jacob A. Riis, How the Other Half Lives. Studies among the Tenements of New York, New York: Charles Scribner’s Sons, 1890

Januar 2011

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© Timm Starl 2011

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