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Fotokritik

 

Timm Starl
Exklusive Bilder in einer bemerkenswerten Sammlung

René Perret
Kunst und Magie der Daguerreotypie
Collection W.+T. Bosshard
Mit einem Vorwort von Martin Gasser
Brugg: BEA + Poly-Verlags AG, 2006
29 : 23 cm, 248 S., 229 Abb. in Farbe
Leinen
CHF 38,- in der Ausstellung
CHF 68,- im Buchhandel

„Das Spiegeln der Silberplatte oder das Kippen des Bildes vom Negativ zum Positiv kann auch eine Bereicherung des Seherlebnisses sein.“ (48). Was René Perret zur Betrachtung von Daguerreotypien anspricht, zählt zu den besonderen Reizen dieser Hervorbringungen der ersten beiden Dekaden fotografischer Produktion. Es waren nämlich Unikate, die je nach Betrachtungswinkel ihre positive oder negative Seite auftun. Ergänzen könnte man noch, dass es sich bei vielen Aufnahmen um seitenverkehrte Wiedergaben handelt. Nachdem dies aber nur feststellbar ist, wenn eine Schrift im Bild erscheint oder das tatsächliche Aussehen des Objekts bekannt ist, müsste man sich eigentlich die übrigen Bilder nicht nur in der originalen Fassung ansehen, sondern auch alle in gewendeter Ansicht vorstellen. Dann stützt sich das Modell einmal auf den rechten, dann auf den linken Arm, und die Haustür wird auf der einen wie auf der anderen Seite der Gebäudefront zu liegen kommen.

 

Anonym Anonym, Frankreich: Knabe, um 1842, Bild 6,4 x 4,8 cm
(aus dem besprochenen Band, S. 106)

 

          Wird man mit Daguerreotypien in Druckerzeugnissen konfrontiert, spielen solche Gesichtspunkte eine untergeordnete Rolle. Der Betrachter nimmt die abgebildeten Ansichten so lange als seitenrichtig an, bis ihn der Text eines Besseren belehrt oder sich der wahre Sachverhalt auf andere Weise erkennen lässt. Und die gleichzeitige Darstellung von Negativ und Positiv in einem Bild ist ja reproduktionstechnisch nicht möglich. So können die Illustrationen lediglich mit einem Spiegeleffekt ausgestattet werden, um zumindest in einer Hinsicht den Vorlagen ähnlich zu sein. Im vorliegenden Fall hat man die Wiedergaben mit einer Laminatschicht versehen, deren Wirkung noch verstärkt wird, weil auf mattem Papier gedruckt worden ist. In Kauf genommen wurde, dass auch die Abbildungen späterer fotografischer Produkte wie Visitbildern oder Reproduktionen von Etiketten und Buchumschlägen in demselben Glanz erstrahlen. Was damit jedoch erreicht wurde, ist die Inszenierung der Daguerreotypien als Kostbarkeiten, die ins Auge stechen. Diese Betonung erfuhr noch eine Verstärkung, indem die manchmal prachtvollen, oftmals vergoldeten Rahmen, die Messingeinfassungen oder die mit Umrandungen versehenen Passepartouts mit berücksichtigt und zudem die Stücke zumeist vergrößert wiedergegeben wurden. Insofern verweist eine solche Darstellung auch darauf, dass der Erwerb der kostspieligen Daguerreotypien ein „Privileg der wohlhabenden Leute“ (75) gewesen ist.   

 

Anonym Anonym, England zugeschrieben: Drehbank, um 1845,
Bild 7,1 x 5,7 cm, Ledercase mit Prägung (aus dem besprochenen Band, S. 144)

 

          Diese Exklusivität wird zwar erwähnt, geht jedoch in die weiteren Überlegungen nicht ein. Zwar sind einige Daguerreotypien im Hinblick auf eine spätere Vervielfältigung durch grafische Übertragung angefertigt worden, aber auch die Stiche und Lithografien waren nicht für jedermann erschwinglich. So sollte man sich vergegenwärtigen, dass es sich grosso modo um eine exklusive Bildwelt handelt, insbesondere jene aus dem ersten Jahrzehnt bis um 1850 und vor allem soweit die Aufnahmen außerhalb der Vereinigten Staaten entstanden sind. Sie repräsentieren, wie sich Adelige und betuchte Bürger darstellen wollten und an welchen Motiven ihrer Umgebung oder in der Ferne sie ein Interesse hatten. Daneben haben die Pioniere experimentiert und entsprechende Ansichten und Arrangements gewählt, und selbstverständlich wird nicht jedes Exemplar seinerzeit einen Käufer gefunden haben. Zudem mögen manche Aufnahmen als misslungen angesehen worden sein, während sie uns heute als besonders attraktiv erscheinen. Was sich erhalten hat, besteht also aus Bildern, deren Anlass vielfach ebenso wenig zu rekonstruieren ist wie der wechselnde Besitz und die Umstände der Überliefung durch Vererbung oder Verkauf.
           Diesem Manko begegnet der Autor so weit als möglich und auf verschiedene Weise. Zunächst liegt eine Sammlung vor, deren Besitzer nicht nur außergewöhnliche Stücke gesucht haben, sondern einen möglichst breiten Horizont abstecken wollten. Mehr als die Herkunft aus prominenten Studios interessierte offensichtlich ein breites Spektrum an Themen und Motiven, die in Daguerreotypien aufgegriffen worden sind: Zeitgenossen im Studio und im Freien, Tiere, Gegenstände des Alltags und der Kunst, Straßenfluchten und einzelne Gebäude, Akte, große und kleine Ereignisse. Zudem enthält die Kollektion gleichermaßen Beispiele aus Europa und den USA, wodurch die wesentlichen Ausformungen hinsichtlich Komposition und Präsentation vertreten sind. Die ausführlichen Bildlegenden nennen nicht nur Zeitpunkt und Ort der Entstehung und die Bildmaße, sondern beschreiben auch die Beschaffenheit der Rahmen und Etuis, in denen die versilberten Kupferplatten nach der Belichtung aufbewahrt worden sind. Prägungen, Etiketten und Beschriftungen werden zitiert oder manchmal als Faksimile vorgeführt. Ergänzende Ausführungen skizzieren die Lebensläufe der abgebildeten Personen, soweit diese nachvollziehbar waren, und das Wirken der Bildautoren.

 

Marie-Charles-Isidor Choiselat, Stanislas Ratel
  Marie-Charles-Isidor Choiselat und Stanislas Ratel: Tal in den französischen Alpen,
  um 1845, Platte 20,6 x 16,3 cm (aus dem besprochenen Band, S. 191)

 

           Zusammenhänge werden insofern hergestellt, als auf ähnliche oder anders geartete Arbeiten desselben Daguerreotypisten oder auf vergleichbare Arbeiten von Kollegen hingewiesen wird. Leider wurde auf Vergleichsabbildungen verzichtet, so dass bei der Lektüre die Phantasie gelegentlich arg strapaziert wird. Nicht zuletzt werden die gestalterischen Momente der einzelnen Bilder behandelt, wobei vornehmlich die „Reflexe“ auf die Malerei betont werden. Die eine oder andere pauschale Zuweisung irritiert einigermaßen, wenn beispielsweise für Porträts „[S]tilistisch [...] ein Ineinandergehen verschiedener Kunststile“ beobachtet wird, wobei David, Ingres und Courbet im selben Atemzug angeführt werden wie Vorbilder aus dem Biedermeier und der „altniederländischen Malerei“ (77). Nicht minder eigenwillig erscheint mir die Behauptung, die französischen Daguerreotypisten Choiselat und Ratel „machten zum Teil Bilder, wie sie später Piktorialisten wie Constant Puyo, Hugo Henneberg und Heinrich Kühn schufen“ (193). Zumal die gezeigten Beispiele diese Zuweisung in keiner Weise stützen. Ohne Zweifel haben Daguerreotypisten und Fotografen Darstellungsformen praktiziert, die in der Tradition anderer Bildkünste standen, aber eben nicht nur. Die stereografischen Ansichten wären exemplarisch zu nennen als eine der neuen Perspektiven, die mit der Kamera in die Welt gekommen sind.

Anonym Anonym, Frankreich: Paar, um 1845, Bild 13,8 x 10,8 cm
(aus dem besprochenen Band, S. 94)

 

           Vorwiegend wird in dem Buch, das anlässlich der Ausstellung „Lichtspuren. Daguerreotypien aus Schweizer Sammlungen 1840 bis 1860“ in Winterthur vom 2. Dezember 2006 bis 18. Februar 2007 erschienen ist, ästhetisch interpretiert, kultur- und sozialgeschichtliche Argumente kommen zu kurz. Wenn zum Beispiel in einer Aufnahme eines Paares die Frau den Kopf an die Schulter des Mannes lehnt, so wird diese Haltung lediglich als „gekonnt arrangiert“ angesehen und die „reizvolle Dynamik“ damit erklärt, dass der Daguerreotypist möglicherweise „ursprünglich Maler oder Miniaturist gewesen“ sei (95). Dass solche Gesten der Zuneigung äußerst selten in den Porträtdarstellungen des 19. Jahrhunderts auftauchen und inwieweit dies mit dem damaligen Verständnis der Geschlechterrollen und Familienstrukturen zusammenhängt, hätte zumindest einer Erwähnung bedurft.
            Insgesamt zeichnet sich die Veröffentlichung nicht nur dadurch aus, dass sie mit ausgezeichnetem Bildmaterial operiert , sondern auch zahlreiche Verweise auf die vielfältigen Modalitäten der Herstellung, Präsentation und Verbreitung von Daguerreotypien enthält. Manche Aspekte erfahren eine ausführliche Behandlung, andere werden nur angedeutet, so dass eine breite Leserschaft angesprochen wird. Für den Fachmann eröffnen sich unbekannte Details und einige neue Ansätze, die es zu verfolgen lohnt, während der fotohistorische Laie einen moderaten Überblick erhält. Und beide werden gleichermaßen angetan sein, wenn sie auf einem Etikett die Notiz der ehemaligen Besitzerin lesen können: „Margarethe Holliger. ein Geschenk von meinem Mann bey seiner Rückkehr aus dem Feldzug gegen den Sonderbund. Abgereist den 22. October 1847, heimgekehrt den 17. Februar 1848.“ Und der Kommentar von Perret verrät: „An der Zahl auf dem abgelegten Tschako auf dem Tischchen ist zu erkennen, dass die im Freien aufgenommene Daguerreotypie seitenverkehrt ist.“ (117). In solchen Randerscheinungen verschränken sich auf eindrückliche Weise Zeit- und Mediengeschichte, privates Erleben und öffentliches Ereignis.

Jänner 2007

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© Timm Starl 2007

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