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Fotokritik

 

Timm Starl
„weder Kunst noch Handwerk“
Texte zur Fotografie

Albert Renger-Patzsch
Die Freude am Gegenstand
Gesammelte Aufsätze zur Photographie
Hrsg. von Bernd Stiegler und Ann und Jürgen Wilde
(photogramme, hrsg. von Bernd Stiegler)
München: Wilhelm Frink, 2010
23,4 x 15,5 cm, 328 S., 1 Bl., 61 SW-Abb.
Franz. Broschur
€ 32,90

Ernst Jünger, Albert Renger-Patzsch
Briefwechsel 1943–1966 und weitere Dokumente
hrsg. von Matthias Schöning, Bernd Stiegler, Ann und Jürgen Wilde
(photogramme, hrsg. von Bernd Stiegler)
München: Wilhelm Frink, 2010
23,4 x 15,5 cm, 216 S., 1 Bl., 49 SW-Abb.
Franz. Broschur
€ 24,90

In einer Besprechung des Buches Die Welt ist schön bezeichnete Hans Windisch 1929 den Autor der Bilder als „Scotland-Yard der Photographie“, der „nie gesehene Dinge“ entdecken würde. So seltsam die Zuweisung erscheinen mag, trifft sie doch die Voraussetzungen, unter denen Albert Renger-Patzsch an die Arbeit ging: die Aufmerksamkeit, mit der sich der Fotograf seinem Gegenstand widmete, die Genauigkeit, mit der dessen Wiedergabe betrieben wurde, die Konsequenz, mit er sein Ziel verfolgte, dem Wesen der Gegenstände gerecht zu werden. Der Fotograf gehörte zu den führenden Vertretern des Neuen Sehens ins Deutschland, und doch unterscheidet er sich von den meisten Kollegen ebenso hinsichtlich der Ansprüche wie der Ausführung. Zwar wählte er gleichfalls ungewöhnliche Perspektiven, extreme Auf- und Nahsichten, aber er suchte keine abstrakten Lösungen. Die Ausschnitte lassen in der Regel erkennen, welches Objekt sich vor der Kamera befunden hat. Der Ausschnitt, das Detail, der besondere Aufnahmewinkel standen nicht für sich als extravagante Formen, sondern immer als Teil einer erkennbaren Gesamtheit. So suchte er mit seinen Pflanzenaufnahmen nicht wie Karl Blossfeldt die ornamentalen Effekte in der Natur, sondern die Eigenarten einer Blüte, einer Frucht, der Blätter und Stengel, das „Typische“ eben (1936, 135).
            Entsprechend nehmen in seinen Äußerungen zur Fotografie Hinweise hinsichtlich Gestaltung den geringsten Raum ein. Vielmehr finden sich Ratschläge zur Wahl von Kamera und Objektiv, Anleitungen zur Aufnahmetechnik und zur Verwendung der Fotochemikalien, Vorgaben zur Dunkelkammerarbeit. Nur gelegentlich wird auf Hintergrund, Raumwirkung, Bildgrenzen und so weiter hingewiesen. Für wichtiger hält der Autor scharfe Wiedergaben, die den „Zauber des Materials“ hervortreten lassen. „Das Geheimnis einer guten Photographie, die künstlerischen Wert wie ein Werk der bildenden Kunst besitzen kann, beruht in ihrem Realismus.“ (1927, 91) Auf das Kompositorische will Renger-Patzsch weniger mit Worten eingehen, sondern es in Bildern dokumentieren. Entsprechend bezeichnet er den Band Die Welt ist schön von 1928 als „ABC-Buch“ (1937, 150) und als „Musterbuch der Gegenstände“ (1966, 241 f.).

 

Albert Renger-Patzsch: „Catasetum tridentatum“ (Orchidee), 1922/23 Albert Renger-Patzsch: „Europa im Bau“, 1929
Albert Renger-Patzsch: „Catasetum tridentatum“ (Orchidee), 1922/23 (S. 16) Albert Renger-Patzsch: „Europa im Bau“, 1929 (S. 232)

 

           Man ist versucht, manche Dispositionen des Bild- und Textautors auf seinen biografischen Werdegang zurückzuführen. 1897 geboren, hatte er 1929 in Dresden ein Chemiestudium begonnen, dieses aber nach etwa eineinhalb Jahren abgebrochen. Bevor er sich 1926 als freischaffender Fotograf selbständig machen sollte, arbeitete er zeitweilig als Buchhalter. Wie Renger-Patzsch aufgrund seiner chemischen Kenntnisse präzise Anweisungen für die Laborarbeit zu formulieren imstande war, stehen seine buchhalterischen Erfahrungen dafür, jedem Handgriff gleichermaßen Beachtung zu schenken und Exaktheit anzustreben. Wie der tüchtige Buchhalter nicht sämtliche unternehmerischen Aspekte der betrieblichen Finanzwirtschaft durchschauen muss, um gute Arbeit zu leisten, brauche der gute Fotograf nur sein Handwerk zu verstehen, womit die Basis für ästhetische Qualität ausreichend gegeben sei. Diese stelle sich ein, wenn „die Freude am Gegenstand“ (1928, 107) den Motor der Tätigkeit ausmache und die Fähigkeit vorhanden sei, „den Gegenstand seinem Wesen nach zu erkennen.“ (1956, 175)
           „Fotografie [...] ist ein grafisches Verfahren ‘eigener’ Art, weder Kunst noch Handwerk“ (1956, 181), lautet das Credo des Fotografen, und ebenso wechselnd wie unscharf sind seine Bestimmungen und Betonungen, wenn er zu allgemeinen Fragen des Mediums Stellung nimmt. Insbesondere fehlen ihm die Begriffe zur fotografischen Kunst, für die er zwar seine Voraussetzungen zu nennen weiß und diese zur Maßgabe erhebt, nicht aber was sie letztlich auszeichne. Renger-Patzsch findet mit Worten nicht – wie Bernd Stiegler in seinem aufschlussreichen Nachwort anmerkt – zu jenem erweiterten Begriff der Form „als das Medium des technischen Mediums der Photographie, die vermittelnde Instanz, die eine jede Form von Übertragung ermöglicht.“ (308)
            Zwischen die hervorragend edierten und chronologisch angeordneten Aufsätze ist jeweils eine Abbildung eingeschoben, die in der ursprünglichen Veröffentlichung bereits berücksichtigt worden ist oder aus der entsprechenden Zeit stammt. Nicht ganz so sorgsam wie mit den Texten sind die Herausgeber mit der Wiedergabe der Illustrationen umgegangen. Beispielsweise wurde die Aufnahme einer Orchidee von 1922/23 (16) oben und seitlich beschnitten, und zwar stärker als in der seinerzeitigen Reproduktion im Deutschen Kamera-Almanach von 1924 und noch erheblicher als in dem Band von Rainer Stamm aus dem Jahr 1998, an dem im übrigen die Mitherausgeber der vorliegenden Sammlung Ann und Jürgen Wilde gleichfalls beteiligt gewesen sind.
           Nützlich gewesen wäre im Übrigen ein Namen- und Sachindex, der erlauben würde, Personen und Punkte unabhängig vom inhaltlichen Zusammenhang zu verfolgen und jene Vor- und Gegenbilder zu orten, die oftmals oder einmalig erwähnt werden. Dann ließen sich beispielsweise manche Erwähnungen in den Aufsätzen mit jenen „Vorarbeiten zu einem Buch über Photographie“ verknüpfen, die Renger-Patzsch in den 1950er Jahren begonnen, aber nicht fortgesetzt hatte, und die im Anhang untergebracht sind (257 bis 278).

„Lieber Herr“, „Hochverehrter Herr“
Ein Briefwechsel zu Fotoprojekten
Einen solchen Verweisapparat benötigt der Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Albert Renger-Patzsch, der bis zum Tod des Fotografen 1966 geführt wurde und zugleich erschienen ist, nicht unbedingt. Denn die Korrespondenz dreht sich fast ausschließlich um zwei gemeinsame Projekte, die im Abstand von drei Jahren realisiert worden sind. Zu den Privatdrucken Bäume von 1962 und Gestein von 1966 hat Jünger jeweils einen Essay verfasst.
            Der erste diesbezügliche Kontakt fällt bereits in das Jahr 1958, als der Fotograf dem Schriftsteller um einen Termin für eine „unverbindliche Unterhaltung [...] über das Baumbuch“ ersucht (16). Es folgen Absprachen und Absagen von Terminen, Zusendungen von Abzügen und Separata, Informationen und Fragen zur Titelgebung und Reihenfolge der Text- und Bildbeiträge. Alles in allem korrespondieren zwei ältere Herren, die sich wohl gesonnen sind, die Arbeiten des anderen schätzen und gemeinsame Projekte in Angriff nehmen wollen.
            Doch die freundliche Tonlage täuscht nicht darüber hinweg, dass die schriftlichen Begegnungen nicht auf gleicher Augenhöhe erfolgen, was bereits in den Anreden anklingt. Jünger wendet sich an seinen Partner mit „Lieber Herr Renger-Patzsch“, während dieser nur einen „Hochverehrten Herrn Jünger“ kennt. Renger ist die Zurückhaltung Jüngers wohl bewusst, und gegenüber einer Freundin schreibt er dazu: „Aber die Kühle bleibt natürlich immer, das ist eben seine Natur.“ (1963, 72) Doch tut dies seiner Verehrung für den Schriftsteller keinen Abbruch und findet vor allem darin seinen Ausdruck, dass der Fotograf mehr als einmal seinen Zugang zum gemeinsamen Gegenstand darlegt und auf die Differenz zu Jüngers Sinndeutungen verweist:
„Der Fotograf kann den Gegenstand allenfalls erkennen, aber er kann ihn nicht verwandeln. Die Abstraktion, die Ihr Bild vom Gegenstand auch von mir zu fordern scheint, kann der Fotograf nicht leisten; da er auf die Wirklichkeit angewiesen ist, kann er die ‘Idee’ nicht fotografieren. Sein einziges Glück ist der Ausschnitt, durch den er den Betrachter auf den Gegenstand concentrieren kann. Immer ist ihm dabei das Zufällige im Wege. So wird er sich bemühen, den Gegenstand zu finden, der die Idée am vollkommensten repräsentiert. Sie sehen, wie seine Freiheit dahinschwindet: Ein Sklave, teils seines Gegenstandes, teils seiner Mittel.“ (1962, 62)

 

Albert Renger-Patzsch: „Pappeln im Wiesengelände“, veröffentlicht in: Bäume, 1962 Albert Renger-Patzsch: „Solnhofer Plattenkalk“, veröffentlicht in: Gestein, 1966
Albert Renger-Patzsch: „Pappeln im Wiesengelände“, veröffentlicht in: Bäume, 1962 (S. 164) Albert Renger-Patzsch: „Solnhofer Plattenkalk“, veröffentlicht in: Gestein, 1966 (S. 186)

 

           Jünger dagegen ist zurückhaltend, äußert sich in seinen Schreiben weder zum Gegenstand noch zu seiner Art der Annäherung oder zur eigenen Schreibweise. So verrät der Briefwechsel wenig Neues über Renger-Patzsch, wenn man dessen Gesammelte Aufsätze bereits kennt. Und Jünger zeigt sich als der nette Partner, wenn er vom Gestein einmal als „unser Opus magnum“ (1966, 110) spricht, dann „das erste Exemplar Ihres neuen Werkes“ (1966, 112) begrüßt oder an anderer Stelle „Renger=Patzsch als der eigentliche Autor“ (1965, 101) bezeichnet wird. Er freut sich über die Überlassung von Arbeitsproben, die er gerne an Freunde verschenkt, aber sie dienen ihm bei seiner Analyse von Bäumen und Steinen weder als Vorlage noch zur Inspiration. Jüngers Bilder sind bewegte, die sich aus dem Augenschein in der Natur speisen und die Gegenstände mit ihrem besonderen Zeitbegriff und ihren Bedeutungen ausstatten. Doch was Jünger dazu denkt, will er nicht vor dem Fotografen ausbreiten, sondern offenbart sich erst in den beiden Essays „Der Baum“ und „Steine“, die er für die beiden erwähnten Bände verfasst und die dort abgedruckt worden sind. Ihre Berücksichtigung innerhalb der vorliegenden Veröffentlichung im Anhang zusammen mit acht beziehungsweise neun Aufnahmen von Renger-Patzsch entschädigt für den vielfach belanglosen Dialog in den davor ausgebreiteten Briefen.

Die Abbildungen sind Wiedergaben aus den besprochenen Bänden.

Erwähnte Literatur
Renger-Patzsch jun., „Die Photographie von Blüten“, in: Deutscher Camera-Almanach. Ein Jahrbuch für die Photographie unserer Zeit, begründet von Fritz Loescher, hrsg. von Karl Weiß, 15. Bd., Berlin: Union Deutsche Verlagsgesellschaft, o.J. (1924), S. 105-112, hier S. 104.
Albert Renger-Patzsch, Bäume. Photographien schöner und merkwürdiger Beispiele aus Deutschen Landen, Mit einem Essay von Ernst Jünger und den drologischen Erläuterungen von Wolfgang Haber, Ingelheim am Rhein: C.H. Boehringer Sohn, 1962
Albert Renger-Patzsch, Gestein. Photographien typischer Beispiele von Gesteinen aus europäischen Ländern, Mit einer Einführung und Bildtexten von Max Richter und einem Essay von Ernst Jünger, Ingelheim am Rhein: C.H. Boehringer Sohn, 1966
Albert Renger-Patzsch, Die Welt ist schön. Einhundert photographische Aufnahmen, hrsg. und eingeleitet von Carl Georg Heise, München: Kurt Wolff, 1928.
Rainer Stamm, Die Welt der Pflanze. Photographien von Albert Renger-Patzsch und aus dem Auriga-Verlag, hrsg. vom Albert Renger-Patzsch Archiv Ann und Jürgen Wilde in Zusammenarbeit mit der SK Stiftung Kultur, Köln, Ausstellungskatalog, Ostfildern-Ruit: Cantz, 1998, Abb. 11.
Windisch, „‘Die Welt ist schön’. 100 Renger-Photos“, in: Schaja Photo-Mitteilungen, 6. Jg., März 1929, S. 51-57, hier S. 54.

Mai 2010

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© Timm Starl 2010

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