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            | Fotokritik |  
            |   Timm StarlFotografien des Fremden
 Petra BoppFremde im Visier
 Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg
 Bielefeld: Kerber,  2009
 23,5 x 28,2 cm,  159 (+1) S., 177 Abb. in Farbe und Schwarzweiß
 Gebunden
 € 29,80
 Petra Bopp, Sandra  StarkeFremde im Visier –
 Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg
 Katalog zur  Ausstellung im
 Stadtmuseum  Oldenburg, 20.6. – 13.9.2009
 Münchner  Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, 20.11.2009 – 28.2.2010
 Historisches  Museum Frankfurt, 11.4. – 29.8.2010
 JenaKultur –  Stadtmuseum, 24.9. – 14.11.2010
 Bielefeld: Kerber,  2009
 23 x 28 cm, 72 S.,  114 Abb. in Farbe und SW
 Broschiert
 € 6,-
 „Fremde im Visier“  ist ein ebenso plakativer wie zunächst eingängiger Titel. Aufgrund der  Illustrationen auf den Umschlägen der beiden Publikationen vermutet man  zunächst, mit „Fremde“ seien jene unbekannten Personen gemeint, mit denen  Kriegsteilnehmer als Gegner, Verbündete oder Gefangene zu tun haben: Eine Frau  durchquert gehend ein Gewässer (Buch), Gefangene werden abgeführt (Katalog). Im  Buch findet sich keine entsprechende Erläuterung, sondern erst das Vorwort des  Kataloges liefert eine solche: „Der Titel Fremde  im Visier verweist auf den Umgang der deutschen Soldaten mit den extremen  Realitäten im Kriegszustand. Mit der Kamera wurde das Fremde und Unbekannte  eingefangen.“ (Katalog, 5) Es geht also um das Fremde – und letztlich um sehr viel mehr, als es der Titel vermuten lässt. Zur  Debatte steht nicht nur das Fremde, dem der fotografierende Soldat begegnet,  sondern zugleich das Unbekannte im Eigenen, das „Fremde[n] in uns selbst“, jene  „verborgene Seite unserer Identität“ (Kristeva), die der Krieg in den Menschen  zutage fördert.Dass das Thema dermaßen weit gefasst ist, macht die Veröffentlichung  wertvoll, auch wenn die Buchautorin dessen Komplexität nicht immer gerecht zu  werden vermag. Wesentlich sind die zahlreichen Phänomene, denen sie nachgeht,  um die private Fotografie im Krieg zu bestimmen. Dazu hat sie reichhaltiges und  interessantes Bildmaterial in etwa 150 Konvoluten gefunden, dieses ausgewertet  und Zeitzeugen aufgetan, ergänzt also die Bilddokumente um die Erinnerungen und  Reflexionen der knipsenden Wehrmachtsangehörigen und Albumbesitzer. Zudem  werden Berührungspunkte zwischen den privaten Hervorbringungen und den  Produkten von Fotokünstlern wie auch der Bildpropaganda des Nationalsozialismus  gesucht.
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                  | „Album  Johann Wetjen, Album I, Albumblatt, Still  ruht der See, Frankreich 1940 [...]“ (18) |  |  
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                          Bopp hat einen  schönen und zugleich bezeichnenden Anfang gefunden: Eine Aufnahme aus  Frankreich von 1942 zeigt eine Uferszene und ist mit der Bildunterschrift  „Still ruht der See“ versehen. Ein Idyll, das trügt, denn die Bewohner des  Dorfes hatten vor den heranrückenden deutschen Truppen ihre Wertgegenstände wie  Schmuck und Silber in Sicherheit bringen wollen und im Wasser versenkt. So  steht die Aufnahme wie ein Motto den nachfolgenden Illustrationen voran und  soll sagen – wie auch in der Einleitung betont –, dass zwar „aus den  vorliegenden visuellen Zeugnissen [...] ersichtlich“ wird, „wie der Krieg gesehen  wurde – nicht, wie er war“. (10) Man mag diesen Hinweis als Binsenweisheit  abtun, zumal zur Wirklichkeit des Krieges auch zählt, wie er in Bilder gesetzt  wird und diese wahrgenommen werden. Doch ich verstehe ihn auch als Mahnung,  sich laufend vor Augen zu halten, dass die Fotografie nicht mehr als den  Anschein des Realen wiederzugeben imstande ist: Sie ist ebenso ein Medium des  Zeigens wie des Verbergens.   |  
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                | „Album Mit dem Falke durch Frankreich (anonym),  Albumfoto, Auch ER sollte Frankreich Kultur  retten, Frankreich Mai bis Juli 1940 [...]“ (63)
 | „Album  Hans Mayer, Albumfoto, Massengrab,  Sowjetunion, undatiert [...]“ (122) |  |  
            |              Auch für die  Autorin heißt es bei jeder Aufnahme, danach zu fragen, was neben und hinter all  dem, was man in einer Aufnahme zu sehen bekommt, stattgefunden hat. So präsentiert  sie unter anderem nicht nur die bemerkenswertesten Albumseiten, sondern auch  jene mit komplett oder teilweise herausgerissenen Abzügen. Denn diese sprechen  von mehr als der Angst unmittelbar nach Kriegsende, die Besatzer könnten  diskriminierende Fotos von Exekutionen entdecken. Der fotografische Blick ins  Massengrab deutet nämlich auf eine Verfasstheit des Bildautors, mit der er  später nicht konfrontiert sein möchte und die er oder die Nachkommen zum  Verschwinden bringen wollten.Jedes Kapitel ist  einem Aspekt des soldatischen Daseins im Krieg gewidmet, dem erläuternden Text  folgt jeweils ein eigener Tafelteil. Behandelt werden alle relevanten Themen  und Motive, wie sie in privaten Alben ihren Niederschlag finden: Vormarsch,  Einquartierung, zerstörte Bauwerke und Waffen des Gegners, Gefangene, Tote, erhängte  „Partisanen“, Land und Leute in den eroberten und besetzten Gebieten, brennende  Häuser, Flüchtlinge, Kriegsgefangenschaft. Besondere Aufmerksamkeit widmet Bopp  jenem Bildmaterial, in dem Rassismus, Vorurteile und irrationale Ängste zum  Ausdruck kommen: den farbigen Soldaten der französischen Armee, der jüdischen  Bevölkerung in Osteuropa, den sogenannten „Flintenweibern“, wie weibliche  Angehörige der Roten Armee vielfach tituliert wurden. In ihren ästhetischen  Zuweisungen verrennt sich Bopp allerdings gelegentlich: „In vielen  Soldatenalben von der Ostfront adaptierten die Fotografen die Propagandabilder  vom ‘Slawischen’ Untermenschen aus der Presse.“ (72) Doch die meisten Aufnahmen  – vor allem auch jene einer älteren Bäuerin auf der gegenüber liegenden Seite –  sprechen eine andere Sprache. Es sind nämlich eher die Bildunterschriften in  den Alben, die das Vokabular des Nationalsozialismus übernommen haben und den  Blick des Betrachters entsprechend konditionieren.
 Auch an anderer  Stelle benötigt die Kunsthistorikerin Vorbilder, was zu nachgerade aberwitzigen  Vergleichen führt. So findet sie beispielsweise eine kompositorische Analogie  zwischen dem bekannten Bild Robert Capas vom getroffenen und fallenden  Milizionär im Spanischen Bürgerkrieg 1937 zu einer Aufnahme eines unbekannten  Fotografen, der 1942 gefangene russische Soldaten mit erhobenen Händen  festgehalten hat: Weil in einem Fall die „Wehrmachtssoldaten [...] rechts  außerhalb des Bildes zu vermuten sind“ und im anderen der „Schütze ebenfalls  rechts außerhalb des Bildes zu denken ist.“ (104) Auch die Protagonisten des  Neuen Sehens der 1920er Jahre werden bemüht, wenn eine Aufnahme von László Moholy-Nagy,  der 1929 eine sich entfernende Frau am Sandstrand von hinten und schräg oben fotografiert  hat, zu dem Umschlagbild des Buches aus dem Jahr 1942 mit der im Wasser schreitenden  Frau, die aus ähnlicher Perspektive gesehen worden ist, als Vergleich  herangezogen wird. Dass dann und wann Bildlösungen von Kriegsfotografien  früheren Entwürfen prominenter Autoren und Autorinnen ähneln, ist jedoch ebenso  zufällig wie ohne Bedeutung. Denn zumeist gibt es solche Entsprechungen nicht,  und die wenigen Fälle stellen keine Besonderheit im Krieg dar, sondern finden  sich in allen fotografischen Anwendungsbereichen.
 Manche  Interpretationen der Autorin im Buch fehlen im Katalog oder wurden relativiert.  Das mag ein weiterer Grund sein, weshalb dieser ergänzend aufgelegt worden ist.  Zudem wird zusätzliches Bildmaterial aufgeboten, und die Zeitzeugen kommen  ausführlicher zu Wort. Man sollte also die beiden Publikationen als Einheit  sehen. Und trotz der gemachten Einschränkungen muss man die Publikation  begrüßen, erweitert sie doch unseren Blick auf die Fotografie im Krieg und  macht deutlich, wie der knipsende Soldat sein Erleben ins Bild gesetzt und für  die spätere Betrachtung aufbereitet hat.
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                | ![„Album (anonym), Albumblatt, Spuren herausgerissener Fotos [...]“](pix/49-4.jpg) |  
                | „Album  (anonym), Albumblatt, Spuren herausgerissener Fotos [...]“ (154) |  |  
            |   Die Abbildungen sind  Wiedergaben aus dem besprochenen Band. Erwähnte  LiteraturJulia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Aus dem  Französischen von Xenia Rajewsky,
 Frankfurt am Main: Suhrkamp, 21991  (edition suhrkamp, 1604, Neue Folge Band 604), S. 11
 Oktober 2009
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 © Timm Starl 2009 PDF - 196kb  nach oben |  
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