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Fotokritik

 

Timm Starl
Ein besonderes Buch

Michael Mauracher
und ein fremdes Mädchen
mit einer Erzählung von
Josef Haslinger
Südbahnhotel
Leipzig: Institut für Buchkunst, 2009
26,5 x 20 cm, Bl. I-XII, 104 Abb. in Farbe
Beiheft, 8 Bl., geheftet
Halbleinen
€ 33,-
Bestellungen an: Institut für Buchkunst, Hochschule für Grafik und Buchkunst,
Wächterstraße 11, D-04107 Leipzig, institut@hgb-leipzig.de

Michael Mauracher hat ein wunderbares Buch vorgelegt, dieses gemeinsam mit Janine Thaler konzipiert, die zudem für die Gestaltung verantwortlich zeichnet. Es ist ein in jeder Hinsicht anderes Buch, ungewöhnlich und voller Überraschungen. Der poetisch anmutende Titel lässt vermuten, dass etwas erzählt wird, man denkt an eine Liebesgeschichte, die damit beginnt, dass ein unbekanntes Mädchen auftaucht ... Nun, das fremde Mädchen gibt es tatsächlich, ein Kind auf einem Urlaubsfoto von 1958, „welches zufällig auf das Bild kam.“ Doch Mauracher erzählt von etwas anderem, von seiner Suche nach der eigenen Geschichte in den Relikten der Familie, von der Zuneigung zu seiner Heimat im Zillertal, von der Liebe zu seinem Metier, dem Fotografieren und der Fotografie, von der Lust des Erkundens der Vergangenheit des Mediums.
           So ist Mauracher zwar ständig präsent – nicht nur als Autor, sondern auch als Beteiligter – und zugleich schafft er es, Distanz zu sich zu halten. Mit einem lakonischen Vortrag, einer strengen Struktur, einer so unüblichen wie angemessenen Präsentationsform gelingt ihm, das Individuelle mit dem Allgemeinen, das Besondere mit dem Alltäglichen, das Private mit dem Öffentlichen zu verbinden. Vorgestellt werden entlang von Fotografien die Mitglieder mehrerer Familien früherer Generationen, an deren Ende der Autor steht. Wir erfahren etwas vom sogenannten „Christlhaus“, einem Gasthof in Hippach bei Zell am Ziller, aus dem das gesamte Material für die Abbildungen stammt. Ergänzt ist dieses um Aufnahmen von Michael Mauracher. Ohne Anspruch, alle Verwandten gleichermaßen ins Bild zu setzen, wird dargetan, wie die eine und der andere ausgesehen hat, welche Feste gefeiert worden sind, welche Pose man vor der Kamera gewählt haben, wieweit man von den Kriegen betroffen gewesen ist, was man im Urlaub unternommen hat.

 

Anonym: „27. 8. [19]58 Im Zillergrund beim Gasthaus ‘Zillergrund’ Angelika u. Mitzi u. ein fremdes Mädchen, welches zufällig auf das Bild kam“
Anonym: „27. 8. [19]58 Im Zillergrund beim Gasthaus ‘Zillergrund’ Angelika u. Miki u. ein fremdes Mädchen, welches zufällig auf das Bild kam“ (Bl. VII, Abb. 53)

 

           Zugleich eröffnet sich eine kleine Geschichte der Fotografie, vorgeführt mit Visit- und Cabinetbildern des 19. Jahrhunderts, illustrierten Postkarten seit um 1900, einem Reservistenbild eines Tiroler Kaiserjägers, Dias aus dem Ersten Weltkrieg, einem Lichtbildausweis von 1944, Sterbebildern von 1881 bis 1949, Polaroids der 1960er und 80er Jahre. Zu sehen sind Aufnahmen von professionellen Lichtbildnern und von Knipsern, von Straßenfotografen in Lourdes und von Tiroler Atelierinhabern, gezeigt werden Einzel- und Gruppenporträts, Festzüge und politische Veranstaltungen, „Dr. Gustav Stresemann auf dem Weg zur Generalversammlung des Völkerbundes am 9. September 1929“ und „Kaiserin Farah Diba in St. Moritz“ im Winter 1974, Soldaten und Flüchtlinge, eine Hinrichtung im zweiten Weltkrieg, Dorf- und Gebäudeansichten, Stillleben und Kunstreproduktionen. Mauracher steuert da und dort eigene Arbeiten bei, darunter die „Porträts meiner Ahnen im Haus der Familie in Hippach“, eine Fotoserie von 2004 mit Aufnahmen von leeren Stühlen, abgeschlossen von einem Selbstbildnis des Fotografen in Zillertaler Tracht. Zu finden sind Farb- und Schwarzweißfotos, ein gestochen scharfes Gruppenbild einer Pilgergruppe mit mehreren hundert Personen von 1900 und nicht zuletzt unbeabsichtigte Doppelbelichtungen. Auch Kameras und Materialien werden vorgestellt, Apparate, mit denen Familienmitglieder und der Autor fotografiert haben, ein Diabetrachter von 1914/15.
           Die Aufmachung des Buches geht Hand in Hand mit dem Inhalt. Die zwölf Blätter teilen das Material nach Themen, nämlich Bildessays zu den Vorfahren, zu Hippach, Hochzeit, Militär, Fasching, Urlaub, NS-Zeit, Tod. Jedes Blatt ist zweimal gefaltet, beidseitig bedruckt, so dass sich Tableaus in etwa der vierfachen Größe des Buchformats auftun. Man blättert ein neues Kapitel auf, schlägt das Blatt nach oben und bevor weiter gegangen wird, muss das Faltblatt wieder eingeschlagen werden. So liegt jeweils eine Titelseite aufgeschlagen, es folgt eine Abbildung – gewissermaßen als Einleitung –, bevor das Thema mit dem Aufschlagen des Blatts in seiner ganzen Fülle eröffnet wird. Die Konstruktion führt zu einer Lesart, die ein rasches Durchblättern unmöglich macht, die immer wieder ein Verweilen über einer Bildsammlung verlangt – eine Lesart, die dem Umgang mit Bildmaterial in der Auseinandersetzung mit Geschichte entspricht: Einzelne Ansichten führen zu Fragen, liefern Ideen, die Recherche versammelt Konvolute, die durchzusehen sind und aus denen eine Auswahl zu treffen ist, es bieten sich Segmente mit ähnlichen Motiven an, es zeigen sich Überschneidungen und Analogien.
           Doch manchmal muss man die Nachforschungen unterbrechen, will sich ablenken, greift zur Zeitung, führt ein Gespräch oder hört Musik. Als wäre daran gedacht worden: Die Beilage enthält eine Erzählung von Josef Haslinger, betitelt mit „Südbahnhotel“. Der Text beginnt und endet abrupt, wie Bilder manchmal in unser Augenmerk fallen, er schafft Zusammenhänge, die so surreal anmuten wie oftmals Fotografien aus der Vergangenheit, wenn sie über uns kommen. Inhaltlich besteht kein Zusammenhang zwischen dem, was Josef Haslinger und Michael Mauracher, die beiden Österreicher und Professoren in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut beziehungsweise an der Hochschule für Gestaltung und Buchkunst, vorbringen. Der eine provoziert Bilder mittels Sprache, der andere führt uns zu den narrativen Potentialen der Fotografie.
           Ein so schönes wie klug komponiertes Buch, das Geschichten erzählt und Geschichte schreibt.

Die Abbildung ist eine Wiedergabe aus dem besprochenen Band.

Juni 2009

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© Timm Starl 2009

PDF - 102kb

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