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Fotokritik

Timm Starl
Ein „Monat der Fotografie“ in Wien

 

Einladungskarte zur Eröffnung des „3. europäischen Monats der Fotografie Wien“ am
30. Oktober 2006 mit der Arbeit „Matthias & Teresa“ aus der Serie „Zwischenmenschlich“
von Michael Appelt aus dem Jahr 2008

 

Der „Monat der Fotografie“ findet alle zwei Jahre in mehreren europäischen Metropolen etwa zugleich im November statt. Verbunden werden die Festivals durch ein Datum, an das sich kein Veranstalter halten muss. In Wien ist die erste Veranstaltung im August 2008 angelaufen, die letzte schließt im Januar kommenden Jahres, die Eröffnung fand Ende Oktober statt. Darüber kann man froh sein, denn wer könnte schon innerhalb von nur vier Wochen „125 Ausstellungen an über 100 Orten mit 550 involvierten FotokünstlerInnen“ (Pressetext) besuchen. Eine Verbindung wird außerdem hergestellt, indem unter dem Titel „Mutations“ Arbeiten präsentiert werden, die von einer Jury mit Personen aus den Partnerstädten ausgewählt worden sind. Dazu kommen an den jeweiligen Orten zwei Werke, worüber die nationalen Kuratoren frei befinden können.

 

Wolfgang Thaler Wolfgang Thaler, „Still aus Matter of Selection. #1“, 2007, 58:00 min,
© the artist (Pressebild)

 

            Betitelt ist die diesjährige Schau „Mutations II“ mit „ Moving Stills “, sie findet im Museum auf Abruf statt (31.10.2008 – 31.1.2009), gezeigt werden Videofilme und Stills daraus, als Kuratoren zeichnen Berthold Ecker und Gunda Achleitner. Zunächst verwundert die Überschrift und mehr noch die Tatsache, dass einer Veranstaltung zur Fotografie ein anderes Medium vorangestellt wird. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich die Entscheidung als glücklich und der Titel als adäquat. Denn es geht um den Blick von außen, um die Schnittstellen von bewegten und unbewegten Bildern, um Grenzbereiche, an denen oftmals die konstitutiven Elemente eines Mediums besonders deutlich hervortreten.
           Das Anschauungsmaterial gibt sich in den Themen und Motiven ebenso vielfältig wie die Methoden, diese vorzutragen. Das Bildgeschehen berührt jeweils – zumindest in Andeutungen – Industrie oder Krieg, Technik oder Natur, Arbeitsalltag oder Privatleben. Gemein ist den meisten Filmen ein langsames Tempo, das unterschiedlich inszeniert wird: durch stereotype Wiederholung kurzer Sequenzen, Bildobjekte wie ein Paternoster, Zeitlupe, ruhige Kamerafahrten über kleine Flächen, allmähliches Auftauchen und Verschwinden von Erscheinungen. Wolfgang Thaler beispielsweise tastet geradezu behutsam und aus kurzer Entfernung ein Foto mit Bücherwand und Kleiderschrank am Computer ab und überträgt es in ein Video, macht aus Stillstand bewegte Bilder, wobei man gelegentlich im Zuschauen einhält, ohne den Blick abzuwenden, und meint, nur eine einzige Einstellung vor sich zu haben. So erschließt sich beim Verfolgen der Exponate der Ausstellung immer mehr, dass beim fotografischen Sprung aus der Zeit das Davor und Danach zwar bildlich ausgeschlossen, in der Betrachtung aber immer – bewusst oder nicht – mitgedacht wird. Nicht allein vom Augenblick wird die/eine Fotografie bestimmt, sondern ebenso durch die Bildstrecken, die in der Phantasie zu ihr führen und von ihr ausgehen. Und andererseits findet die Erinnerung an die Videofilme zu Einstellungen, die das Gedächtnis als Einzelbilder gespeichert hat.

 

Galerie Lindner Einladung zur Eröffnung der Ausstellung „Günther und Loredana Selichar. 844 Fotogramm / 844 Photogramms“
am 29. Oktober 2008 in der Galerie Lindner

 

           In zwei weiteren Ausstellungen erfolgt gleichfalls eine Auseinandersetzung mit den Konstitutionen des Mediums. Sie sind in kleineren Galerien untergebracht, deren ‘Intimität' einer konzentrierten Auseinandersetzung durchaus zugute kommt. Eine solche ist auch notwendig, um sich Günther und Loredana Selichars „844 Fotogramm“ in der Galerie Lindner (30.10. – 28.11.2008) zu erschließen. „97 Fotogramm“, eine der vier ausgestellten Arbeiten, bedeutet nämlich, dass kleine Messinggewichte, die zusammen 97 Gramm wiegen, auf einem lichtempfindlichen Papier, das so geschnitten ist, dass es gleichfalls 97 Gramm auf die Waage bringt, das Bild hervorgerufen haben. Es handelt sich bei den Ergebnissen um Fotogramme, deren Einmaligkeit nicht nur daraus resultiert, dass sie Unikate darstellen, sondern dass sich die absichtsvoll wirkende Anordnung einem Zufall verdankt, also nicht wiederholbar ist. Die Gewichte wurden auf das Fotopapier geworfen, was allerdings eine ausgefeilte Wurftechnik voraussetzt, damit keines sich quer stellt oder teilweise auf einem anderen zu liegen kommt. Ich vermute, dass kleine Korrekturen vorgenommen worden sind, was eine surreale Komponente ins Spiel brächte. Nicht genug der gewichtigen Inszenierung: Die Einladungskarte gibt „2 Fotogramm“ in der originalen Größe wieder, und der Karton wiegt selbstverständlich 2 Gramm; wie als Einschaltung im Katalog des Monats der Fotografie „15 Fotogramm“ ausersehen worden ist, zumal dieser auf entsprechend schweren Papier gedruckt ist. Günther Selichar lächelt verschmitzt.
           Spielerei? Ein wenig, aber nicht nur! Die Selichars stellen die empirische Fähigkeit, mit der das Medium alle sichtbaren Erscheinungen vor dem Objektiv zu registrieren vermag, gegen den Zufall, der jeder Fotografie eingeschrieben ist, weil kein Auge sämtliche Details im Augenblick der Aufnahme zu ermessen vermag, die meisten also zufällig ins Bild eingehen. Insbesondere beim Fotogramm trifft dies zu, denn es verschafft ja jener Seite der Dinge seinen Abdruck auf dem Fotopapier, die dem Künstler im Moment des Lichteinfalls abgewendet ist. Zwar wird die Form exakt wiedergegeben, zumal die auf dem Papier aufliegenden planen Flächen 1 zu 1 im Fotogramm erscheinen, allerdings nur, wenn sich die Lichtquelle genau senkrecht über dem Gegenstand befindet und dieser nicht größer ist als jene, weil dann die Strahlen schräg auf die erhabenen Partien fallen, was den Abdruck gegenüber der Vorlage vergrößert. Und überhaupt ist das Fotogramm keine Fotografie, wie Floris Neusüss bekennt, dem wir ein einschlägiges Standardwerk verdanken,... aber das führt zu weit. Doch das Künstlerpaar spielt mit all dem, was sich auch darin ausdrückt, dass die Abbildung auf der Einladungskarte als „S/W-Fotografie“ gekennzeichnet ist, was insofern richtig ist, weil die Druckvorlage nicht das Fotogramm, sondern dessen fotografische Reproduktion gewesen sein wird. Der Fotografie kommt man auch nur mit einer präzisen Sprache bei. Und so weiter und so fort. Darin liegt der Reiz dieser Arbeit, dass sie Fragen zur Entstehung der Bilder aufwirft, sich – so man sich näher auf sie einlässt – eine Überlegung an die andere schließt und ein Denken über Fotografie provoziert.

 

John Hilliard John Hilliard: „In Black-And-White And Colour“ , 2007, S-type colour photo on aluminium, 125 x 155 cm (Pressebild)

 

           Ähnlich geht es dem Betrachter der zwölf Fotoarbeiten von John Hilliard aus den Jahren 2002 bis 2008, die im „Raum mit Licht“ (30.10. – 20.12.2008) unter dem Titel „colour less“ zu sehen sind. Ob „weniger Farbe“ in Anspielung auf Goethes „Mehr Licht“ gemeint ist, wird vom Künstler nicht mitgeteilt. Dagegen äußert er sich zu den Exponaten: „Als ich bei der Aufnahme eines symmetrischen Objektes die Folgen der Auswahl einer bestimmten Perspektive im Vergleich zu einer anderen untersuchte, und im gleichen Zeitpunkt die Leistungsfähigkeit der Kamera, mehrere Aufnahmen eines Objektes auf ein einziges Stück Film zu produzieren, erkundete, habe ich zahlreiche Arbeiten geschaffen, die entweder drei oder (üblicherweise) vier Perspektiven eines Objektes als ein gemeinsames Ganzes darstellen. Diese Technik erlaubt eine Gleichzeitigkeit von sonst getrennten Darstellungen und führt zu einem komplexen Bild, das aus dieser Überschneidung besteht [...]“
           Beim Betrachten der Bilder meint man zunächst, es handle sich um Mehrfachbelichtungen, doch Hilliard hat mehrere Negative übereinander gelegt und in einem einzigen Kopiervorgang zu einem Bild vereint. Bei jeder Aufnahme, die aus einem geringfügig anderen Winkel zum Objekt entstanden ist, habe der Künstler auf die „Gleichmäßigkeit der Abstände und Beleuchtung“ geachtet. Auch hier werden die individuelle Perspektive und die Einstellung nach Maß und Zahl miteinander verschränkt, um zu einer erweiterten Darstellung von figuralen Objekten zu gelangen. Mittels der ‘Durchleuchtung' mehrerer Perspektiven werden die skulpturalen Momente eines Mediums ausgelotet, das die Vorstellungen vom Raum immer nur in der Fläche zum Ausdruck bringen und in der Einzelaufnahme nicht mehr als einen einzigen Standpunkt vertreten kann. Manche Bilder wirken ein wenig so, als seien sie nach außen gewölbt.

Zehn Ausstellungen innerhalb des „Monats der Fotografie“ beschäftigen sich mit historischem Bildschaffen, wobei lediglich in der Albertina ein Thema umfassender behandelt wird („Die Weite des Eises“, s. Text 37). Ansonsten ist man den bequemen Weg der monografischen Darstellung gegangen. Vier Projekte sind der Fotografie in der ehemaligen Tschechoslowakei gewidmet, wozu ich den Wiener Pressefotografen Heinz Hosch (1927 – 1981) zähle, der im August 1968 während des Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes in Prag tätig gewesen ist. Aus dessen etwa 400 Aufnahmen hat man 81 ausgewählt und zeigt sie im Österreichischen Museum für Volkskunde (7.11. – 7.12.2008) als Diaprojektion. Damit ist der kleinstmögliche Blickwinkel gewählt worden: Ein Ereignis, das in wenigen Tagen von einer einzigen Person verfolgt worden ist, kann in großformatigen Wiedergaben und in einem vorgegebenen Tempo besichtigt werden.

 

Heinz Hosch Heinz Hosch Heinz Hosch
Heinz Hosch: Prag, August 1968, aus einer Serie von rund 400 Aufnahmen für die Wiener Tageszeitung Die Presse (Pressebilder)

 

           Das Besondere an dieser Serie liegt in der Offenheit des Fotografen, der gleichermaßen unvoreingenommen den Okkupationstruppen wie der Bevölkerung gegenübergetreten ist. In den Gesichtern der Soldaten entdeckte er nicht Überlegenheit, sondern Irritation und Unsicherheit, die protestierenden Frauen und Männer wirken nicht verzweifelt oder abweisend, sondern treten selbstbewusst und teilweise fröhlich auf; und den einen wie den anderen ist Ratlosigkeit anzumerken. Viele der von Hosch gemachten Ansichten stehen damit gegen jene zahlreichen, die damals von der Presse im Westen publiziert worden sind. Ich erinnere mich, dass die Konfrontation von Panzern und Menschen, von Gewalt und Ohnmacht die Zeitungsseiten jener Tage beherrscht hat. Damit auch dieser Teil der Geschichte präsent ist, haben die Kuratoren Paul Divjak und Matthias Beitl Ausgaben der Tageszeitung Die Presse , für die Hosch gearbeitet hat, besorgt und in Vitrinen ausgelegt. So wird augenscheinlich, welche Bilder den Vorstellungen der Redaktion entsprochen haben und welche den Lesern nicht vorgesetzt werden sollten.

 

Gustav Aulehla Gustav Aulehla
Gustav Aulehla: Auslage in der Hauptstraße, Leser der Tagespresse, beide Marienbad, August 1968 (aus: Monat der Fotografie. Wien 2008 , Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 66/67)

 

           Das Ende des „Prager Frühlings“ hat auch ein Amateurfotograf in einer Kleinstadt erlebt und neben anderem festgehalten. Gustav Aulehla (Jahrgang 1931) fotografiert seit etwa 60 Jahren, und aus seinem Œuvre hat das Forschungszentrum für historische Minderheiten in Wien in Zusammenarbeit mit dem Institut für kreative Fotografie der Schlesischen Universität Opava (früher Troppau) 48 Arbeiten aus den Jahren 1950 bis 1980 ausgewählt (30.10. – 6.12.2008). Obgleich er nicht professionell tätig war, führten seine Begegnungen mit der Bevölkerung und den Okkupanten zu keinen wesentlich anderen Darstellungen als jene von Hosch. Aulehla fotografierte nur für sich, brachte die Ergebnisse nicht an die Öffentlichkeit und gehörte keinem Amateurklub an – gleichwohl kann man ihn nicht als Knipser bezeichnen. Vielmehr gehört er zu den seltenen Fällen, die solche Einordnungen als fragwürdig erscheinen lassen. Mehr als Ausbildung, Auftragslage und öffentliches Wirken sind für die Auffassung von Menschen und Dingen die Fragen wichtig, die ein Bildautor an diese richtet. Aulehla interessierte seine Umgebung, die Bewohner von Krnov (ehemals Jägerndorf), ihr tägliches Tun: Er sah sich als Chronist seiner Zeit, und das meint den Alltag, der auch seiner ist und zu dem das Fotografieren gehörte wie die Tätigkeit eines Verkehrspolizisten. Seine Aufnahmen sind gekennzeichnet durch einfache Konstruktion, die den Gegenstand möglichst zentral ins Bild setzt, vor allem aber durch eine intensive Aufmerksamkeit, die den Erscheinungen nicht nur ihre Oberfläche abgewinnen will, sondern sie als Teil der eigenen Welt begreift.

 

Frantisek Drtikol Jaroslav Rössler
Frantisek Drtikol: ohne Titel, 1929 (Pressebild) Jaroslav Rössler: ohne Titel, um 1923 (Pressebild)

 

           Für das Tschechische Zentrum Wien hat der renommierte Fotohistoriker Vladimir Birgus Arbeiten von drei Vertretern der Avantgarde der 1920er und 30er Jahre zu einer kleinen Schau zusammengestellt (7.11 – 2.12.2008). Vertreten sind der allseits berühmte Frantisek Drtikol (1883 – 1961), dessen jahrelanger Assistent Jaroslav Rössler (1902 – 1990), der weniger Beachtung gefunden hat, und Eugen Wiskovsky (1880 – 1964), der international kaum bekannt ist. Vorgeführt werden von Drtikol neun und von Rössler sieben Arbeiten aus den Jahren 1923 bis 1929, Wiskovsky ist mit zehn Beispielen aus der Zeit von 1929 bis 1939 vertreten. Bei sämtlichen Exponaten handelt es sich um neue Abzüge von den originalen Negativen. Für den Besucher, der den bildlichen und theoretischen Diskurs um die neuen Tendenzen der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei nicht kennt, liegt in der Veranstaltung nur dürftiges Material auf. Ein einseitiger Text begnügt sich mit einer Skizzierung der einzelnen stilistischen Positionen und geht über eine Etikettierung mit den gängigen kunst- und fotohistorischen Ismen nicht hinaus. So steht der wenig kundige Betrachter staunend vor einer Ansammlung ungewöhnlicher Inszenierungen und abstrakter Kreationen, die er beispielsweise weder zur zeitgenössischen lokalen und internationalen noch zur heutigen Bildproduktion ins Verhältnis zu setzen vermag, weil ihm die Umstände von dazumal nicht geläufig sind. Es bleibt nur ein mechanistischer Vergleich von Formen, wenn das kulturelle Fundament, das ihnen zugrunde liegt, nicht bekannt ist.

 

Antal Jokesz

 

Antal Jokesz: „Partygirl“, 1979/2003, C-Print, 70 x 125 cm (aus: Zeitgenössische Fotokunst aus Ungarn, Ausstellungskatalog, Berlin: Neuer Berliner Kunstverein, Heidelberg: Edition Braus im Wachter Verlag, 2008, S. 68)

 

           Mit mehr Material versorgt das Collegium Hungaricum, das elf zeitgenössische Fotokünstlerinnen und -künstler versammelt hat (30.10. – 28.11.2008), den Besucher. Die 27 vorgeführten Arbeiten bilden die verkleinerte Ausgabe einer Wanderausstellung, die im laufenden Jahr bereits in Berlin, Halle und Sindelfingen zu sehen gewesen ist. Der Katalog enthält mehr Bildbeispiele, vor allem aber eine „Vorgeschichte zur ungarischen Fotografie“ von László Beke und aufschlussreiche „Anmerkungen zur ungarischen Gegenwartsfotografie und zu ihren Entstehungsbedingungen“ von Zsolt Petrányi. Erst nach der Lektüre erschließt sich der Titel der Veranstaltung, „ Dokument versus Konzept “ über die plakative Formulierung von Gegensätzen hinaus. Denn bis dato beeinflusst die Tradition des „klassischen ungarischen Dokumentarismus“ insbesondere der Nachkriegszeit das Fotoschaffen jener, die sich davon lösen wollen, neue Fragen aufwerfen und nach anderen Ausdrucksmitteln suchen. Wie eine Illustration der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte erscheinen die Fotografien von Antal Jokesz (Jahrgang 1952), der eigene schwarzweiße Schnappschüsse von 1978/79 mit Farben und am Computer in den Jahren 2003/04 bearbeitet hat. Die vorgenommenen Veränderungen – Kolorierung und eingezeichnete Muster – setzen gewissermaßen vor die Momentaufnahmen eine moderne Fassade und lassen die Figuren in der Rhetorik von heute erstarren.

 

Aleksander Valchev

Aleksander Valchev: aus der Serie „Reminiscences“, 2005 (aus: Monat der Fotografie. Wien 2008 , Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 203)

 

           Auch der Beitrag im Slowenischen Kulturzentrum Korotan (7. – 24.11.2008) stellt eine Auswahl aus der 2007 in Ljubljana gezeigten Ausstellung dar. Als Grundlage dient das 2004 von der dortigen Galerie Photon entwickelte Konzept, nach dem jedes Jahr eine international besetzte Gruppe von Kuratoren und anderen Fachleuten junge Vertreter aus Südosteuropa und Teilen Osteuropas vorstellt. Nicht nur die Jury wechselt jährlich, sondern auch die Ausstellungsplätze sind häufig andere. In Wien zu sehen sind unter dem Titel „ Photonic Moments “ 25 Arbeiten von zehn Bildautorinnen und -autoren aus Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Polen, Rumänien, Slowenien und der Türkei, entstanden in den Jahren 2003 bis 2008. Der Katalog zeigt je ein Beispiel dieser sowie weiterer 16 Personen aus den genannten und weiteren Ländern. Die beengten Platzverhältnisse im Wiener Zentrum, das nicht für Ausstellungen konzipiert ist, lassen manche Bildentwürfe kaum ausreichend zur Geltung kommen, wie auch die Ansprüche des ambitionierten Unternehmen insgesamt im Katalog deutlicher zutage treten.
           Das Slowenische Wissenschaftsinstitut in Wien, das die Agenden eines nationalen Kulturinstituts wahrnimmt, verfügt ebenfalls nicht über einen idealen Raum, um Fotografien zu präsentieren. In dem mehrfach durch Fenster und Durchgänge unterbrochenen Eingangsbereich hat man die freien Flächen mit sieben Arbeiten von Eva Petric bestückt (5.11. – 1.12.2008). Allerdings bieten die Unregelmäßigkeiten der räumlichen Konstruktion das adäquate Ambiente für die unterschiedlichen Entwürfe der slowenischen Fotokünstlerin. Der Blick kann nicht von Bild zu Bild wandern, sondern muss gewissermaßen immer wieder das Hindernis einer Tür oder eines Pultes überwinden und sich neu einstellen. Insofern kommen die Einzelbilder, Diptychen und Triptychen besser zur Geltung als in der Galerie Suppan Contemporary, die 26 Werke derselben Künstlerin anbietet (6. – 24.11.2008). Dort stehen größere und homogenere Flächen zur Verfügung, und im Nebeneinander tritt deutlich hervor, dass Petric dies und jenes versucht, mit allerlei Materialien arbeitet, mit Farbe und Schwarzweiß experimentiert und diese kombiniert, genauen Aufzeichnungen ebenso zugetan ist wie Verfremdungen. Und zugleich merkt man, wie sehr sich doch vieles ähnelt.

 

Eva Petric Eva Petric
Eva Petric: „Army of me series 2“, 2007, Lambdaprint/Aludibond, 160 x 120 cm (Pressebild) Eva Petric: „Angel Hound series 3“, 2008, Lambdaprint/Aludibond, 120 x 90 cm (Pressebild)

 

           Was die Bilder gemeinsam haben, ist ihre Größe – meist mehr als einen und bis zu 2,40 Meter hoch und entsprechend breit – und der Auftritt der Künstlerin im Bild. Sie inszeniert sich mit Vorliebe als Engel, aber auch als Märchenfigur, als Schatten, als erotisches Wesen mit Krone und als schüchtern-veträumte Gestalt im Sonnenblumenfeld; dargeboten in ein- und mehrteiligen Abzügen, in Collagen, vor Spiegeln, mit Wachs überklebt. Als ob sie erst ihren stilistischen Weg und die richtigen Materialien finden müsste, gibt sich Petric als Künstlerin, die alle gängigen Mittel der Darstellung und Präsentation beherrscht und zugleich durchschaut hat, was der Markt bevorzugt. Das meiste kommt gefällig daher, manches stolziert am Rande des Kitsch, dies und jenes lässt an hehre Mythen denken, alles hat den Anschein des Geheimnisvollen. Doch eigentlich hat Petric nichts zu verbergen, weil sie nichts von Bedeutung zu erzählen weiß. Es sind bloß Mitteilungen über die Fähigkeit des Mediums, alle möglichen Bilder hervorzubringen, und über die Virtuosität einer jungen Frau (Jahrgang 1983), sich auf dem Parkett des Marktes elegant zu bewegen. Man kann nur hoffen, dass ihre Begabung die Künstlerin in Zukunft zu gehaltvolleren Lösungen führt.

Liesl Ujvary (Jahrgang 1939) ist eine Schriftstellerin, die fotografiert. Sie interessiert sich für Arten und Gruppen, insbesondere auch für die Kollegenschaft. 1983 hat sie Porträts neben Aufnahmen von heimischen Drogenpflanzen gestellt, das Lächeln einer Frau erschien neben dem Bilsenkraut, die verwischt festgehaltene Kopfbewegung neben den im Wind sich bewegenden und deshalb leicht unscharf wiedergegebenen Stengeln und Blättern. Eines der Modelle damals war Neda Bei, und auch bei dem aktuellen Projekt „privatsachen“ im Literaturhaus (11.11. – 19.12.2008) begegnet uns die Verfasserin von phantasievollen Anagrammgedichten wieder. Nun aber tritt sie anders auf: nicht mit ihrem Gesicht und geschlossenen Augen, sondern vermittelt über die Dinge, denen sie sich in ihrer Wohnung, an ihrem Arbeitsplatz gegenüber sieht.

 

Liesl Ujvary Liesl Ujvary
Liesl Ujvary: Neda Bei, o.J. (aus: Liesl Ujvary, Menschen & Pflanzen Porträts, Ausstellungskatalog Forum Stadtpark, Graz, Wien: Selbstverlag, 1983, o.S.) Liesl Ujvary: “neda bei“, ohne Jahr (aus: liesl ujvary, privatsachen. Fotos 2006 – 2008, Wien: Selbstverlag, 2008, o.S.)

 

           In den vergangenen drei Jahren hat Ujvary Künstlerinnen und Künstler, Autoren und Autorinnen in ihren privaten Domizilen besucht. Sie hat auf die Schreibtische und darunter geblickt, auf die Bords darüber und die Stellagen daneben. Vorgefunden hat sie Schreibmaschinen, Notizzettel, Zeitungen, Bücher, Kopierer, Stifte, CDs, Tonbänder, Lampen, Kochtöpfe, Fotos an den Wänden, Stofftiere, Lautsprecher und anderes mehr. Mit der Kamera ist sie so nahe gegangen, dass jede Einzelheit scharf abgebildet, aber kein Überblick möglich ist. Man kann nicht von den Kleinigkeiten auf das große Ganze schließen. Der empirische Blick wird ebenso zurückgewiesen wie jener, der in den Dingen die Verfassung der Besitzer erkunden möchte. Es sind intime Situationen, eine wie die andere, jede für sich eine besondere und doch sich gleichend. Aus der Nähe betrachtet und nebeneinander gestellt offenbaren sich das Ähnliche (der Sorte) wie das Unterschiedliche (des Individuellen). Zu 21 Personen sind jeweils fünf Farbabzüge in den Maßen von 18 x 24 cm sowie eine kurze Biografie und ein Zitat aus dem Werk zu einem Tableau zusammengefasst. Begleitet wird die Ausstellung, die zum mehrmaligen Durchsehen animiert, von einem Katalog, der zurückhaltend angelegt ist und sich gut von vorne nach hinten wie auch umgekehrt durchblättern lässt. Bis der Betrachter die Ordnung und Unordnung in den eigenen vier Wänden erkennen mag.

Die zentrale Darbietung zur zeitgenössischen Fotografie findet im Künstlerhaus statt: “traces. Erinnerung in Fotografien“ (13.11. – 8.12.2008). Begleitet wird sie von mehreren Einzelpräsentationen, von denen zwei insofern zum Thema passen, als es sich um Retrospektiven handelt oder zumindest frühere Arbeiten mit einbezogen und in einen neuen Zusammenhang gestellt werden. Die 72 Exponate von Erich Lessing (Jahrgang 1923) erinnern eigentlich an wenig mehr als die letzten Jahrestage bedeutender Ereignisse oder prominenter Personen, zu denen der ehemalige Pressefotograf und rege Promotor seiner selbst Bildmaterial beigesteuert hat. Wieder einmal hat sich die Riege der Außenminister auf dem Balkon des Belvedere versammelt, nachdem 1955 der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet worden ist, und zum wiederholten Mal hebt Herbert von Karajan lässig den Taktstock während einer Orchesterprobe. Große Ereignisse bedürfen einer entsprechenden Wiedergabe, meint der Bildautor, also fallen manche Aufnahmen in riesigen mehrere Quadratmeter großen Wiedergaben auf dem Besucher, dem allerdings mehrere Wege zu den anderen Räumen offen stehen.

 

Didi Sattmann Didi Sattman: Olga Neuwirth, 2008 (aus: Didi Sattmann, Künstler / Freunde, Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien, Wien 2008, S. 39)

 

           Gegenüber einer solch pompösen Inszenierung wirken die rund 120 und gleichfalls über drei Räume verteilten Arbeiten von Didi Sattmann (Jahrgang 1951) geradezu bescheiden. Als „Künstler / Freunde“ lernen wir etwa 70 Personen der Wiener Kunstszene kennen, in denen – was der Titel ausdrücken soll – der Porträtist mehr als illustre Modelle sieht – oder eigentlich: wir lernen einen Fotografen kennen, der die Menschen liebt. Das spüren die Personen, auf die sich seine Kamera richtet – eine freundlich lächelnde Elfriede Gerstl, ein grantiger Hrdlicka, die verliebten Kandls –, und Peter Turrini findet 1995 die passenden Worte, die im Katalog wiedergegeben sind: „Heute fotografiert mich der Didi und das macht mir Freude. [...]“ Ausgestellt sind nicht nur Bildnisse aus den Jahren von 1980 bis 2008, sondern jeweils auch Werke mancher Künstler, so ein Holzschnitt von Lisa Huber oder die Bücher von Christoph Ransmayr. Die Schau hat etwas Intimes, zugleich fühlt man sich eingeladen, an den Beziehungen teilzuhaben, den Gesprächen zuzuhören, die den Aufnahmen voran gegangen sind, dem Augenblick beizuwohnen, wenn der oder die Porträtierte erstmals einen Blick auf das Bild geworfen hat.
           In dem einen Raum, an dessen Wänden 79 Abzüge eng nebeneinander wie an einer Schnur aufgereiht sind, hat Sattmann Platz gemacht für eine fotokünstlerische Reaktion. eSeL hat 108 kleinformatige Farbaufnahmen seiner Freunde zu einem Tableau formiert: andere Gestalten, eine andere Szene, vor allem ein anderer Blick darauf. Ein Künstler hat fotografisch auf die Arbeit eines Kollegen reagiert, und dieser hat seine eigene relativiert – eine ungewöhnliche und noble Geste.
           Auch die Kuratorinnen Brigitte Konyen und Angela Schwank haben die „ traces “ für eSeL geöffnet und ihn Spuren ganz anderer Art verfolgen lassen. Lorenz Seidler, wie sein bürgerlicher Name lautet, hat schon in der Phase der Vorbereitung das Projekt fotografisch begleitet, an Besprechungen teilgenommen, bei der Hängung zugesehen, ist bei der Pressekonferenz und bei der Eröffnung anwesend gewesen. Bilder davon finden sich nun in 10 x 15 cm kleinen Abzügen neben den Exponaten. So sind nicht nur manche Künstler bei der Installation ihrer Werke zu sehen, sondern die gesamte Ausstellung tritt nicht als ein fertiges Produkt auf, sondern ist in seiner prozessualen Dimension zu erfahren. Eine solche Veranstaltung wird ja nicht nur bestimmt von der Präsenz der Bilder, sondern besteht aus Akten des Abwägens, Selektierens, Kommunizierens, Installierens, Betrachtens und Kommentierens. Diese ständige Bewegung um die Werke verfolgt eSeL und hält sie fest, so dass die Ausstellung immer wieder Ergänzungen erfährt und quasi selbst ständig in Bewegung ist.

 

eSeL eSeL: „Kurzzeitvermächtnis“,
Angela Schwank bei Vorbereitung-arbeiten zur Ausstellung, November 2008 (mit freundlicher Erlaubnis des Autors)

 

            Die 36 Arbeiten von 27 Fotokünstlern werden großzügig und ansprechend vorgeführt. Dass die Beiträge der beiden Kuratorinnen an zentraler Stelle platziert worden sind, haben manche Besucher als nicht angemessen empfunden. Doch möchte ich einwenden, dass kaum jemand sich darüber mokieren würde, wenn der Herausgeber einer Anthologie mit wissenschaftlichen Texten neben der Einleitung selbst mit einem weiteren Beitrag vertreten ist. Der besondere Standpunkt – ob bildlich oder sprachlich artikuliert – und die editorische beziehungsweise kuratorische Tätigkeit, die jeweils auch andere Positionen herausstellt, schließen sich nicht aus. Andererseits sind zehn Teilnehmer zwei- oder dreimal vertreten. Dazu kommt, dass sechs Personen in der in der Galerie Geyling stattfindenden Ausstellung „wirklich wahr“ (21.11. – 18.12.2008), die dem künstlerischen Umgang mit Knipserfotos verpflichtet ist und sich als Ergänzung der „traces“ versteht, ein weiteres Mal zum Zuge kommen. Alles in allem bleibt der Verweis auf Vorlieben ohne Bedeutung, wenn es sich um die Berücksichtigung von Positionen handelt, die dem Thema neue Facetten abgewinnen.
           Eben darin liegt die Stärke der Ausstellung, dass die vielfältigen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Spuren im Bild wie als Bild aufgegriffen werden. Fotografien zeichnen ja nicht nur Spuren auf, sondern werden selbst zu solchen, und auch die Handhabung des Mediums ist ihnen eingeschrieben. Johannes Stoll (Jahrgang 1966) deckt in zwei von drei Arbeiten seine Erinnerungen an den fotografischen Akt auf. Am Beginn einer Eisenbahnfahrt beispielsweise hat er unbelichtetes Fotopapier an das Abteilfenster geheftet und dieses nach der Ankunft am Ziel abgenommen, entwickelt und fixiert. Das Ergebnis zeigt sich als schwarze Fläche, in der die Zeit der Reise, die mit jener der Aufnahme übereinstimmt, sowie die Unendlichkeit der Landschaft, deren zahlreiche Einzelheiten im Vorbeifahren mit freiem Auge gar nicht wahrzunehmen sind, gespeichert. Es bedarf allerdings – wie bei nahezu allen ausgestellten Arbeiten von „traces“ – des Mediums der Schrift, um Zeitpunkt und Raum, also was das Bild von sich aus nicht frei gibt, kenntlich zu machen. Wie ja unidentifizierte Spuren auf nichts verweisen können und keinerlei Erinnerung in Gang setzen.

 

Sivia Maria Grossmann Silvia Maria Grossmann: Reise auf einem Frachtschiff von La Spezia nach New York, 8.–22.11.2005, 32,5 x 48,5 cm (aus: traces. Erinnerung in Fotografien, Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien, Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 32)

 

           Silvia Maria Grossmann (Jahrgang 1957) erzählt in 15 Aufnahmen einer 20teiligen Serie von einer Schiffsreise, die sie im November 2005 von La Spezia nach New York geführt hat. Zwei Wochen verbringt sie auf dem Frachter, blickt über die Container hinweg auf den fernen Horizont – gewissermaßen den zukünftigen Weg vorweg nehmend –, schaut zurück und entdeckt im Gekräusel des Wassers die zuletzt zurückgelegte Strecke. Fotografisch lassen sich Spuren nicht nur sichern, sondern auch legen, und seien es jene rasch vergänglichen, derer nur die Fotografie Herr wird. Zudem erscheint die Serie mit ihren dunklen Tönen bereits das Stadium erreicht zu haben, in dem das Verschwinden der Erinnerung eingesetzt hat.

 

Karin Mack Karin Mack: aus dem Zyklus „Weiße Schatten auf schwarzem Schnee“, 1982, 24 x 30 cm (aus: traces. Erinnerung in Fotografien, Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien, Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 17)

 

           Zwischen Stoll und Grossmann, könnte man sagen, zwischen Medienreflexion und Dokumentation, zwischen dem Aufzeichnen früherer Spuren und dem Setzen neuer bewegen sich die übrigen Arbeiten der Ausstellung. Die ältesten stammen von Karin Mack (Jahrgang 1940) und sind 1978 und 1982 entstanden. „Weiße Schatten auf schwarzem Schnee“ heißt eine Gruppe von zehn Negativprints. Sie bilden in der Fotografie das Gedächtnis der positiven Abzüge, derer man sich immer wieder bedienen kann, wenn jene beschädigt werden oder verblasst sind, sprich: die Erinnerungen zunehmend verloren gehen.

 

Zbigniew Kosc Zbigniew Kosc

 

Zbigniew Kosc: Doppelseite aus dem Band Perm. Without, all was sunshine and splendour, within, all was silence and mystery, Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien, Wien 2008

 

           In den 38 Aufnahmen eines längst nicht mehr benutzten Friedhofs in Perm, eine Industriestadt im Ural, den Zbigniew Kosc (Jahrgang 1951) 1994 aufgesucht hat, konzentrieren sich Erinnerungen ganz differenter Art. Der Aufnahme eines Grabsteins mit dem Email-Bildnis des oder der Toten hat der Fotograf jeweils eine von der wuchernden Vegetation zur Seite gestellt. In den diversen Symbolen und Inschriften kann man die unterschiedliche Religionszugehörigkeit und politischen Einstellungen ablesen und wird damit verwiesen auf die wechselvolle Geschichte Sowjetrusslands im 20. Jahrhundert. Der sukzessive Verfall der Gräber, die teilweise beschädigten Porträtmedaillons lassen den Betrachter ihr ehemaliges Aussehen in Gedanken rekonstruieren, also eine Erinnerung an etwas versuchen, das man niemals vor Augen gehabt hat.

 

Eva Brunner-Szabo Eva Brunner-Szabo: „Auf der Suche nach dem Gedächtnis I“, 2000/2002, Ausschnitte aus zwei Reihen, jeweils 30 x 45 cm (aus: traces. Erinnerung in Fotografien , Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien, Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 18)

 

           Eva Brunner-Szabo (Jahrgang 1961) demonstriert mit „Auf der Suche nach dem Gedächtnis I“ von 2000/2002 die wechselseitige Durchdringung von Bildern der Erinnerung. Die Aufnahmen von Partien der Wohnung eines Verstorbenen, Stücken aus dem Nachlass, seines Porträts hat sie als Negative übereinander gelegt und kopiert. So sind das Gesicht des Mannes zugleich präsent mit einem Wandbild, handschriftliche Mitteilungen der Ehepartner („Bin auf Post gegangen. Bussi Papa)“) zugleich mit einer Leiter, eine Perlenkette mit einer Kommode. Wie im Gedächtnis die Eindrücke gleich einem Geflecht miteinander verwoben sind, überlagern sich die Relikte, und erst der fokussierende Blick vermag die Verschränkungen zu durchdringen.

 

Brigitte Konyen
Brigitte Konyen: „something to remember“, 2005/07, Fotoflechtbild, Diptychon, je 107 x 132 cm
(aus: Monat der Fotografie. Wien 2008, Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 141)

 

           Mit so genannten Flechtbildern visualisiert Brigitte Konyen (Jahrgang 1963) das Nebeneinander von Erinnerungen und deren Ineinandergreifen. Private Aufnahmen von sich hat sie zu einem größeren Bild zusammen gefügt, dieses in Streifen geschnitten und zu einem Diptychon geflochten: „something to remember“, 2005/07. Damit macht sie ebenso deutlich, dass Erinnerungen Konstrukte eines Jetzt sind und das Gedächtnis aus Bruchstücken besteht, die sich nicht immer zugleich aufrufen lassen. Manche Einzelheiten können genau ausgemacht werden, andere liefern bestenfalls Andeutungen oder bleiben abstrakt. Das Alter der Aufnahmen hat sich im Geflecht aufgelöst, es ist auch bedeutungslos geworden, in der Erinnerung haben Bilder ohnehin keines.

 

Willy Puchner Willy Puchner: aus dem Zyklus „Alter und Erinnerung, 1980–2005“, 50 x 65 cm (aus: traces. Erinnerung in Fotografien , Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien, Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 48)

 

           Das Aufeinandertreffen verschiedener Zeitebenen stellt Willy Puchner (Jahrgang 1952) in einem langjährigen Vorhaben in den Vordergrund, wenn er alte Menschen zusammen mit Fotografien aus deren Besitz aufgenommen hat. Eine Frau schaut einen Stoß Abzüge durch, eine andere hat mehrere gerahmte Fotos (vermutlich von Kindern und Enkeln) auf dem Tisch arrangiert und posiert davor, eine dritte hält das Bildnis eines Verstorbenen zur Kamera hin. Je älter man wird, desto öfter sind geliebte und Menschen und Freunde nur noch als Bilder zugegen. Angesichts deren Porträts eröffnet sich eine andere Sicht, welche sich aus den Erinnerungen an früher speist, die wiederum von den aufbewahrten Bildern überlagert werden. Man kennt das doch, wenn Bilder Erinnerungen durchdringen oder sich vor diese schieben, so dass man nicht mehr weiß, ob man sich an das reale Aussehen oder bloß an eine bildliche Wiedergabe erinnert.

 

Christian Rupp Christian Rupp: aus der Serie „Bildspur“, 2008 (aus: traces. Erinnerung in Fotografien , Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien, Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 43)

 

           Christian Rupp (Jahrgang 1970) ist 2008 jenen Rändern nachgegangen, die von Bildern übrig bleiben, wenn sie von der Wand genommen werden. Dann hinterlassen sie Staubspuren, die wie verlorene Schatten eine ehemalige Anwesenheit bezeugen. Der Inhalt wird nicht verraten, nicht einmal die Größe des Bildes, nur das Format des Rahmens. Es handelt sich um eine Art Fotogramme, denn wo das Wandbild aufgelegen hat, ist die Fläche hell geblieben, und die Umrisse erhalten durch die dunklen Stellen Gestalt. Auch die Kehrseite dessen, was zu sehen gewesen ist, konstituiert Erinnerungen, die immer auch mit sich führen, was neben und hinter dem eigentlichen Geschehen, das festgehalten worden ist, stattgefunden hat: zugleich ein Konstitutiv des Fotografischen.

 

Sissa Micheli Sissa Micheli
Sissa Micheli: Auszug aus der elfteiligen Arbeit „please do not tell anybody“, 2003, je 22 x 15 cm (aus: traces. Erinnerung in Fotografien , Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien, Salzburg: Fotohof edition, 2008, S. 44/45)

 

           Die Selbstinszenierungen von Sissa Micheli (Jahrgang 1975) halten mich immer wieder gefangen. Einerseits folgt man ihr in den mehrteiligen Serien durch eine Wohnung, erkennt geläufige Posen, weiß zwar, dass die Künstlerin mit ihren Darstellungen auf die eigene Vergangenheit zurückgreift, kann aber das konkrete Erlebnis nicht fassen. In den elf Prints „please do not tell anybody“ von 2003 spielt sogar der Titel darauf an, dass etwas Konkretes gezeigt wird, das nicht weitergegeben werden soll – aber was genau ist es? Was besagen das Verbergen des Gesichts, der Kinderwagen, ein Kissen wie ein Baby im Arm gehalten, das Trocknen von Tränen? Die aufmerksam ausgerichteten Szenen sind in unprätentiösen Einstellungen aus meist kleinem Winkel von oben oder unten wiedergegeben. Die Klarheit der Aufnahmen steht gegen das Geheimnis, das sie nicht aufdecken – und man setzt von neuem an, geht von Bild zu Bild, ohne sich schlüssig zu werden. Aber gibt es aufregendere Fotoarbeiten als solche, die nicht alle Geheimnisse preisgeben?
           Mit „traces“ ist dem Künstlerhaus eine formidable Ausstellung zu einem großen Thema gelungen, das von allen möglichen Seiten beleuchtet wird. Zudem wird das Projekt als ein lebendiges begriffen und sein Werdegang bis hin zu seiner Rezeption anschaulich in Szene gesetzt. Und wer mag, kann sich selbst mit einem Porträt einbringen und an der Schlussfeier teilnehmen: Zur Finissage werden die Porträts jener Besucher, die sich am Selbstbildautomaten der Künstlergruppe Almblitz haben ablichten lassen, in Signale umgewandelt und – neben allen Satelliten, die sie aufzeichnen und wiedergeben könnten, vorbei – in den Weltraum geschossen. Nach acht Minuten werden sie die Sonne passieren, nach etwa einer halben Stunde unser Sonnensystem verlassen.

Kataloge

 Monat der Fotografie
Wien 2008
(Hrsg. von Vladimir und Estragon)
Salzburg: Fotohof edition, 2008
30 : 23,1 cm, 251 S., ca. 400 meist farbige Abb.
Broschiert
€ 19,-

Fotonicni trenutki / Photonic Moments 07
Ausstellungskatalog Ljubljanski graad, 2007
Ljubljana 2007
15 : 21 cm, 50 S., 27 Abb. in Farbe, 1 in SW
Broschiert
wird nicht angeboten

Zbigniew Kosc
Perm
Without, all was sunshine and splendour, within, all was silence and mystery
Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien
Wien 2008
23,5 : 16,5 cm, 24 Bl., 41 Abb. in SW
Broschiert
€ 15,-

Prag 1968
Fotografien von Heinz Hosch
Eine Verlagsbeilage der Wiener Zeitung
Publikation zur Ausstellung im Österreichischen Museum für Volkskunde
30,4 : 23,1 cm, 16 Bl., 54 Abb.
lose Blätter
kostenlos

Didi Sattmann
Künstler / Freunde
Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien
Wien 2008
27,1 : 21 cm, 83 (+1) S., 53 Abb., davon 10 in Farbe
Broschiert
€ 18,-

traces
Erinnerung in Fotografien
Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien
Salzburg: Fotohof edition, 2008
28 : 22 cm, 89 S., caq. 92 meist farbige Abb.
Broschiert
€ 18,-

liesl ujvary
privatsachen
fotos 2006 – 2008
Wien: Selbstverlag, 2008
27 : 20,4 cm, 24 Bl., 42 Abb. in Farbe
Broschiert
€ 30,-
beziehbar bei:
Liesl Ujvary, Johann Straussgasse 10-14/1/30, 1040 Wien, liesl.ujvary@tele2.at

 Zeitgenössische Fotokunst aus Ungarn
Ausstellungskatalog
deutsch/englisch/ungarisch
Berlin: Neuer Berliner Kunstverein,
Heidelberg: Edition Braus im Wachter Verlag, 2008
30,1 : 23,9 cm, 150 S., 87 meist farbige Abb.
Broschiert
€ 20,- in der Ausstellung

November 2008

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© Timm Starl 2008

PDF - 2,7mb

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