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Fotokritik

 

Timm Starl
„[...] die ästhetische Realität innerhalb der tatsächlichen Welt wahrzunehmen [...]"

Helen Levitt
Spectrum – Internationaler Preis für Fotografie der Stiftung Niedersachsen 2008
Sprengel Museum Hannover
[Begleitbuch zur Ausstellung „Helen Levitt“, 10.2. – 25.5.2008,
hrsg. von Inka Schube]
Ostfildern: Hatje Cantz, 2008
32,5 : 30,7 cm, 167 S., 142 Abb., davon 70 in Farbe
Leinen, Schutzumschlag
€ 49,80, SFR 88,-

Die Kommentare und Studien zu Person und Werk der 1913 in Brooklyn geborenen Helen Levitt beginnen gerne mit Hinweisen, was sie nicht ist und nicht tut beziehungsweise getan hat. Es sei „von entscheidender Wichtigkeit“, betonte der langjährige Weggefährte James Agee 1946, dass die Fotografin keine ihrer fotografischen Aufzeichnungen „in irgendeiner Weise präpariert, bearbeitet und zu verbessern versucht hat.“ (Agee, 12). Mit „Antijournalismus“ charakterisiert Kollege Walker Evans ihre Arbeit in einem kurzen Text von 1969, der – als einziger – in der vorliegenden Veröffentlichung wiedergegeben ist. Sie sei „weder Historikerin noch Soziologin, die gesellschaftliche Verhältnisse dokumentieren will“, schreibt Andrea Henkens in ihrer Studie von 2005, und auf „[a]rrangierte Szenen“ habe sie keinen Wert gelegt (Henkens, 22 und 114). Levitt verzichte „auf Anteilnahme“ und werde „nie sentimental“, ist in einer Besprechung jüngsten Datums zur Ausstellung samt Begleitbuch zu lesen (Stremmel).
           Diese negativen Formulierungen deuten an, dass die üblichen Schablonen kunst- und fotohistorischer Einordnung nicht recht passen wollen. Um dann doch hinsichtlich Stil und Arbeitsweise Anhaltspunkte zu liefern, werden Berühmtheiten genannt, mit denen Levitt bekannt war und die sie beeinflusst haben könnten. An vorderer Stelle stehen die Fotografen Henri Cartier-Bresson, dem sie Mitte der 1930er Jahre begegnet ist, und Walker Evans, dem sie 1938 ihre Fotografien gezeigt hat, der Regisseur Luis Bu ñ uel, der sie 1942 zu einer Ausbildung als Cutterin angeworben hat, und der Schriftsteller James Agee, Mitautor ihres ersten Films von 1945/46. Beeindruckt sei sie von Dziga Vertovs Film „Der Mann mit der Kamera“ aus dem Jahr 1929 gewesen, und es habe Kontakte zur politisch links orientierten Photo-League gegeben.
            In den Wertungen ihrer Fähigkeiten richten sich die Urteile nahezu ausschließlich nach Agee, der Helen Levitt attestiert hat, sie habe ein „Gefühl für Straßen, für seltsame Details und für Raum“, wobei „ihr Vokabular oft an das der Surrealisten erinnert“ (Agee, 15). Entsprechend wird die Fotografin zuallererst als hervorragende Vertreterin der Street Photography gewürdigt. Zu erfahren ist, dass sie ihre Motive seit 1936 in New York, vorzugsweise in der Lower Eastside und der Bronx, in Brooklyn und Harlem, sowie 1941 in Mexico City gefunden hat. Den surrealen Blickweisen hat sich Andrea Henkens 2005 in einer aufmerksamen Untersuchung gewidmet und dabei den Alltag von Stadtbewohnern auf öffentlichen Plätzen und die zufälligen Begegnungen als wesentliche Momente ausgemacht. Agee meinte auch, die meisten Arbeiten Levitts seien „am treffendsten als lyrische Photographien“ zu beschreiben. Ergänzend sprach er davon, dass sie jene „lyrischen Qualitäten“ wiedergeben würden, wie sie als „ästhetische Realität innerhalb der tatsächlichen Welt“ auftreten (Agee, 9 ff.). Dieser Befund wird von den späteren Chronisten zumeist ins Unscharfe gewendet und ihre Kompositionen ohne weitere Begründung als poetisch apostrophiert. Mir scheinen solch pauschale Zuweisungen vornehmlich als Ausdruck der Schwierigkeiten, die rechten Kriterien und Worte für ein Œuvre zu finden, das durchaus als singulär und außergewöhnlich zu bezeichnen ist.

 

Helen Levitt

 

Helen Levitt: („New York City“, 1939 (S. 141)

 

            Anlässlich der Ehrung von Helen Levitt mit dem „Spectrum – Internationaler Preis für Fotografie der Stiftung Niedersachsen 2008“ hat am 18. und 19. April 2008 ein anregendes Kolloquium im Sprengel Museum Hannover unter dem Titel „Die Ästhetik der Straße“ stattgefunden, das – wie auch die Ausstellung – von Inka Schube gestaltet worden ist. In dessen Rahmen hat Andreas Haus dem „Gefühl [...] für den Raum“, das Agee angesprochen, aber nicht näher erläutert hat, eine erhellende Analyse nachgeliefert. Ausgehend von den Straßenaufnahmen eines Paul Strand und Aaron Siskind aus den 1920er und 30er Jahren, die das Geschehen als flüchtige Erscheinung im Gefüge und Perpetuum der Stadt aufgefasst haben, erkenne Levitt eigene Aktionsräume, die sich Erwachsene wie Kinder auf den Gehsteigen und in Hauseingängen, in Telefonzellen und neben parkenden Autos erobern. Fern der sozialen Enge eines Milieus der Armut und Bedürftigkeit wird die Umwelt verdrängt und vergessen und ein autonomer Platz auf der Straße behauptet. Levitt führe die vielen kleinen Räume vor, die von den Menschen gestaltet werden – Räume der Aufmerksamkeit und des Schauens, des Tanzes und der Spiele, der Selbstdarstellung und des Rückzugs. Diese Szenen inszeniere die Fotografin wie Aktionen auf einer Theaterbühne, indem der Ausschnitt die Situation eng umfängt und keinen Blick freigibt auf die Fluchten der Straße oder die komplette Fassade eines Hauses. Haltung und Miene, Graffiti und Kreidezeichnungen an Häuserwänden und am Boden seien Ausdruck eines individuellen Daseins, mit denen die Akteure aus der urbanen Anonymität heraustreten.
            Die vorzügliche Interpretation eines Kunsthistorikers, der die üblichen Mittel der Geometrisierung zur Erläuterung des Bildaufbaus ebenso nicht benötigt wie vergleichende Stilisierungen, offenbart die entscheidende Facette in Levitts Entwürfen. Trotz der Fokussierung auf einen abgeschlossenen Raum und den kurzen Augenblick, weisen die Darstellungen – und dahingehend folge ich Haus nicht – darüber hinaus und enthalten narrative Elemente. Denn wie die Menschen auftreten, hat immer auch rituelle Züge, die auf Vorbilder im Realen oder in den Medien, auf eine Sozialisation in Familie und Schule, auf Besonderheiten des Stadtviertels und der Großstadt verweisen verweisen. Und insofern erzählen die Bilder immer auch von den allgemeinen Lebensgewohnheiten in den Armenvierteln von New York und den spezifischen Daseinsbedingungen ihrer Bewohner. (Einmal davon abgesehen, dass keine fotografische Wiedergabe sich restlos erschließt, wenn nicht über deren Ränder hinaus gesehen wird. Oder in den Worten Siegfried Kracauers: „Eine genuine Photographie schließt den Begriff der Vollständigkeit aus.
Ihr Ausschnitt bezeichnet eine vorläufige Grenze; ihr Inhalt deutet über jenen Ausschnitt hinaus [...]“)

 

Helen Levitt Helen Levitt
Helen Levitt: „New York City“, 1940 (S. 72) Helen Levitt: New York, 1971 – 1991 (S. 119)

 

            Dem vorliegenden Buch, das auf Datierungen und Identifizierungen, auf Chronologie und Erläuterungen verzichtet, bin ich zunächst mit heftigem Misstrauen begegnet. Keine biografischen Notizen geben der Bildautorin Kontur, und nicht einmal die Tatsache, dass ihre erste Einzelausstellung 1943 im Museum of Modern Art stattgefunden hat, wird erwähnt. Lediglich die Titelrückseite vermerkt lakonisch, dass die Schwarzweiß-Fotografien „zwischen 1937 und 1948 sowie in den 1980er-Jahren in New York“ und die Farbfotografien zwischen 1971 und 1991 entstanden seien und benennt einige Ausnahmen. Eine solche kommentarlose Zurschaustellung von Bildmaterial erweckt den Eindruck der blanken Apotheose einer Fotokünstlerin, deren Werke für sich selbst sprechen würden, keiner Relativierungen bedürften und die – aus der Geschichte der Zeitläufe und Zusammenhänge genommen – wie unverrückbare Monumente fotografischer Ästhetik präsentiert werden könnten. Insofern handelt es sich auch um eine Publikation, die nicht dazu angetan ist, sich mit der Person und dem Schaffen der Fotografin kritisch auseinanderzusetzen. Doch wer sich die Mühe nimmt, die Daten des Werdegangs anderswo zu beschaffen und Andreas Haus' Überlegungen folgen will, findet in dem schön aufgemachten Band das notwendige Anschauungsmaterial. Und schließlich: Es ist ein Künstlerbuch, von Levitt so entworfen, mit Bildern, die sie heute für wichtig hält, in einer Folge, die ihrer Vorstellung eines Bildbandes entsprechen.
            Der Anteil der Farbaufnahmen ist vergleichsweise groß, womit einer Werkgruppe vorgeführt wird, die ab 1959 entstanden ist und ohnehin wenig bekannt ist. Doch enthalten sind auch die prominenten Bilder, von denen manche immer wieder zu Gegenüberstellungen animiert haben. Dazu zählt die Aufnahme des Mädchens mit den Milchflaschen von 1950, das nicht wenige an die „Rue Mouffetard“ von Cartier-Bresson

 

Henri Cartier-Bresson Helen Levitt
Henri Cartier-Bresson: „Rue Mouffetard“, Paris 1954 (aus: Jean-Pierre Montier, Henri Cartier-Bresson. Seine Kunst – Sein Leben , München, Paris London: Schirmer/Mosel, 1997, S. 157) Helen Levitt: ohne Titel, 1950 (S. 147)

 

aus dem Jahr 1954 erinnert. Wobei neben den offensichtlichen Analogien auch Differenzen bestehen, die einmal mehr Levitts Raumkonstruktion deutlich werden lassen. Die Spannung in Levitts Darstellung besteht vor allem darin besteht, dass die Schwangere mit strenger Miene einen Blick nach unten wirft, dessen Ziel nicht genau zu verorten ist. Haltung und Ausdruck stellen sich gegen das fröhlich auftretende Mädchen und dessen halb geschlossene Augen, aus denen sie der Fotografin entgegen schaut. Die ‘Aktionen' bleiben im Bildraum, während die Blicke der Protagonisten in Cartier-Bressons Aufnahme von den Mädchen über den Jungen und von diesem über das Bild hinaus gerichtet sind.
          Weit mehr haben mich einige Bilder von Walter Rosenblum von 1938 angesprochen, die in denselben Jahren in derselben Stadt entstanden sind, aber bislang in den mir bekannten Äußerungen zu Levitt keine Beachtung gefunden haben.

 

Walter Rosenblum
Helen Levitt
Walter Rosenblum: Pitt Street, kartenspielende Zigeunerkinder, 1938 (aus: Walter Rosenblum, Weingarten: Kunstverlag Weingarten, Dresden: Verlag der Kunst, 1990, Abb. 13) Helen Levitt: „New York City“, um 1940 (S. 17)
Walter Rosenblum Helen Levitt
Walter Rosenblum: Pitt Street, Kinder auf Schaukeln, 1938, (aus: Walter Rosenblum , Weingarten: Kunstverlag Weingarten, Dresden: Verlag der Kunst, 1990, Abb. 6) Helen Levitt: „New York City“, um 1940 (S. 6)

 

Der Standpunkt der Bildautorin und des Bildautors in Augenhöhe, die ‘Ordnung' der Kartenspieler und der ‘bewaffneten Bande', die Dynamik der schaukelnden sowie mit Ästen und Stäben agierenden Buben, die Abgeschlossenheit der Schauplätze – all dies weist eine erhebliche Nähe in der Auffassung auf. Man möchte annehmen, Levitt und Rosenblum haben sich oder zumindest ihre Hervorbringungen gekannt. Andererseits: Welche Einsichten wären daraus zu gewinnen, dass einzelne Kreationen zweier fotografierender Zeitgenossen sich ähnlich sind? Ist es dermaßen erstaunlich, dass in derselben Stadt, im gleichen Zeitraum, ein Fotograf und eine Fotografin denselben Sujets auf gleiche Weise Aufmerksamkeit schenken? Bleibt letztlich mehr als die Gewissheit, dass das eine oder andere Bild aus dieser oder jener Kamera einen Vergleich provoziert? Wie immer dieser auch ausfallen mag, liefert er doch keine besonderen und neuen Erkenntnisse zu dem unvergleichlich homogenen und in vieler Hinsicht großartigen Werk von Helen Levitt.

Zitierte Literatur
James Agee, „New York City“ [1946], in: Helen Levitt , hrsg. von Peter Weiermair, Ausstellungskatalog der DG Bank Kunstförderung, München, New York: Prestel, 1998, S. 9-15.

Andrea Henkens, Flanerie in der Großsdtadt. Auf der Suche nach dem Anderen im Alltäglichen: Surreale Blickweisen in den Fotografie von Helen Levitt , Marburg: Tectum, 2005.

Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen , Aus dem Amerikanischen von Karsten Witte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971 (Schriften, Bd. 4), S. 63.

Kerstin Stremmel, „Tanz des Lebens. Helen Levitt im Sprengel Museum Hannover“, in: Photonews , Nr. 4, 2008, S. 8.

Die Abbildungen nach Aufnahmen von Helen Levitt sind Wiedergaben aus dem besprochenen Band; Titel und Datierungen wurden der Werkliste des Ausstellungskataloges Helen Levitt , hrsg. von Peter Weiermair, Ausstellungskatalog der DG Bank Kunstförderung, München, New York: Prestel, 1998, S. 101 entnommen.

Mai 2008

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© Timm Starl 2008

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