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Fotokritik

 

Timm Starl
Vorstellungen des Elends

Ausstellung
„Ganz unten. Die Entdeckung des Elends – Wien, Berlin, London, Paris, New York“
Wien: Wien Museum, 14. Juni – 28. Oktober 2007

Katalog
Ganz unten
Die Entdeckung des Elends
Wien, Berlin, London, Paris, New York
Hrsg. von Werner Michael Schwarz, Margarethe Szeless, Lisa Wögenstein
Ausstellungskatalog Wien Museum
Wien: Christian Brandstätter, 2007
27 : 21,2 cm, 189 (+1) S., 154 teils farbige Abb.
Broschiert, € 24,- in der Ausstellung
Gebunden, € 39,90 im Buchhandel

„[...] den Schluß macht das Gesindel“, heißt es in dem Kapitel „Die acht Klassen“, in die der Theaterautor, Romancier und Essayist Louis Sébastien Mercier die Gesellschaft einteilt. Doch in seinem Tableau de Paris , das 1781 erstmals in Buchform erscheint und bereits zwei Jahre später eine deutsche Fassung erlebt, erfahren die „Gescheiterten“ und „Verbitterten“ nicht weniger Aufmerksamkeit als die Vertreter der besser gestellten Gruppen. Was ihm auf seinen Streifzügen durch die französische Metropole aufgefallen ist, hat er in 1.049 Kapiteln festgehalten: nüchtern wie ein Reporter, die sozialen Widersprüche mit aufklärerischem Eifer offen legend, vielfach in der Sprache jener verfasst, deren Dasein beschrieben wird. Ob „Straßendirne“ oder „Bettler“, die Inhaftierten in den Gefängnissen, „Schuhputzer“ und „Findelkinder“ – Armut und Verbrechen werden ebenso gesehen wie Wohlstand und Ausbeutung. Mit seinem Bilderbogen richtet Mercier nicht nur den journalistischen Blick erstmals auf das Elend in einer Großstadt, sondern begründet auch eine neue Form der sozialkritischen Berichterstattung.
             Die Ausstellung „Ganz unten“ im Wien Museum setzt etwa ein halbes Jahrhundert später an, in den Jahren um 1840, als Charles Dickens den Roman Oliver Twist veröffentlicht hat, in den seine Erfahrungen und Beobachtungen in den armen Gegenden Londons eingeflossen sind. Vermutlich hat das Kuratorenteam (Werner Michael Schwarz, Margarethe Szeless, Lisa Wögenstein) diesen Zeitpunkt gewählt, weil Merciers Interesse ein Einzelfall am Ende der absolutistischen Periode in Frankreich gewesen ist, während in den 1830er Jahren die Ära der „modernen Großstädte“ ansetzt, nachdem diese von den Errungenschaften der Industriellen Revolution und den Folgen der kapitalistischen Warenwelt ergriffen worden sind. Darüber hinaus haben sich mehrere Autoren dem Thema literarisch gewidmet, und außerdem erschlossen sich mit neuen Verfahren der Bildherstellung und der Reproduktion zusätzliche Möglichkeiten der Darstellung.
            Denn es geht bei dem Vorhaben des Museums nicht um eine Analyse der Zustände in den Slums und den Vierteln der Armen, sondern um die Art und Weise, wie das Elend in Texten und Bildern vermittelt, also aufgefasst und ‘gestaltet' worden ist. Nicht wer davon betroffen gewesen, und in welchem Umfang es aufgetreten ist, welche Maßnahmen zu seiner Bekämpfung ergriffen worden sind, steht zur Disposition, sondern wie sich manche Zeitgenossen der ‘sozialen' Frage angenommen, das Elend kommentiert und publiziert haben. Dazu wurden „[r]und ein Dutzend möglichst signifikanter ‘Positionen' aus der Zeit zwischen 1830 und 1930 ausgewählt“, wie Wolfgang Kos, der Direktor des Museums, im Katalogvorwort erläutert. Es handelt sich also um ein durchaus zeitgemäßes Projekt, bedenkt man das aktuelle Problem zunehmender Armut in einer global operierenden Wirtschaft bei mehrheitlich national ausgerichteter Politik und die damit verbundene Verelendung, wobei dieser Bezug jedoch nicht erwähnt und in der Ausstellung wie auch im Katalog vorwiegend historisch argumentiert wird. Auch beschäftigt man sich mit der medialen Umsetzung, ohne auf die Ursachen und das Ausmaß von Elend einzugehen, was doch stark an die gängige Praxis im heutigen Diskurs der Politik erinnert.

 

Hermann Drawe
Hermann Drawe: Wienkanal in der Nähe der Kettenbrücke, 1904,
aus dem Lichtbildervortrag „Durch die Wiener Quartiere des Elends und
Verbrechens“, koloriertes Glasdiapositiv (aus dem besprochenen Katalog, S. 8)

 

             Folgerichtig wird auch an keiner Stelle versucht, den Begriff zu fassen, denn Elend bedeutet an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten sowie für jeden, der von ihm betroffen ist oder es von außen betrachtet, etwas anderes. Ich behelfe mir mit einer so einfachen wie einleuchtenden Definition im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm von 1862: „urbedeutung dieses schönen, von heimweh eingegebnen wortes ist das wohnen im ausland, in der fremde [...]“ Wer im Elend beheimatet ist, befindet sich zugleich außerhalb; zu ihnen gehören jene, die in miserablen Wohngebieten leben und auf engem Raum hausen, ohne Arbeit sind oder einer schlecht bezahlten Beschäftigung nachgehen, ständig unterwegs sind oder nur temporär Unterkunft finden. Für die heutigen Verhältnisse haben wir in etwa eine Vorstellung, wo und bei wem Elend zu finden ist: bei Langzeit-Arbeitslosen, kinderreichen Sozialempfängern, manchen Rentnerinnen und vielen Schein-Selbständigen, in Trabantenstädten und Asylantenheimen. Über die Kapitale und deren Bewohner im 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fehlen gewöhnlich entsprechende Kenntnisse. Insofern würde gelegentlich schon interessieren, welche tatsächlichen Umstände den Zeichnungen und Gemälden, Skizzen und Fotografien, Projektionsvorführungen und Filmen, literarischen und journalistischen Texten zugrunde gelegen haben, die das Museum anführt. Doch die Medien sind die Botschaft dieser Veranstaltung, um die Formen der Artikulation geht es, um ästhetische Besonderheiten, um Strategien der Argumentation, um die Wirkung auf das Publikum.
             Die Auswahl, mit der die Ausstellungsbesucher konfrontiert werden, mag man durchaus als bunt bezeichnen. Entsprechend wurde die Präsentation farblich eingerichtet, beispielsweise ist der Abschnitt mit Bildern zum Totenhaus in einem schlammähnlichen Oliv, jener mit den Produkten der Boulevardpresse in schreiendem Gelb gehalten. So wandert man durch die übersichtlich gestalteten Räume, von der Vitrine zur Diaprojektion, von Originalabzügen zu späteren Reproduktionen, von der Malerin zum Fotografen, vom Dichter zum Illustrator, von Stadtplänen mit nach Einkommensschichten gekennzeichneten Gebieten zu kolorierten Diapositiven, von Straßentypen des bürgerlichen Zeichners zu jenen aus der Kamera des aus proletarischen Verhältnissen stammenden Fotografen, vom „Bandit's Roost“ im New York zu den Berliner Hinterhöfen, von den Aufnahmen der Patienten in Heimen des viktorianischen England zu einem sozialdemokratischen Propagandafilm der 1920er Jahre, in dem die Errungenschaften des Roten Wien dem „gründerzeitlichen Elend“ gegenübergestellt werden. Man begegnet prominenten und weniger bekannten Protagonisten: bildenden Künstlern von Gustave Doré über Käthe Kollwitz bis Hermine Holler-Ostersetzer, Schriftstellern von Emile Zola über Erich Kläger und Max Winter bis Hans Ostwald, Fotografen von Jacob A. Riis bis Hermann Drawe. Vertreten ist zudem Heinrich Zille, der in Berlin ebenso gezeichnet wie fotografiert hat (und leider nicht Edith Suschitzky, die sich in den 1930er Jahren in Wien wie in London mit der Kamera ins Milieu der Armen begeben hat).
            Der Katalog wartet noch mit besonderen Aspekten auf, so zu den mehrfachen medialen Stationen, die gelegentlich bis zur Veröffentlichung durchlaufen worden sind. Manche Autoren hatten sich auf die Dienste von Vermittlern gestützt, die sie in die entsprechenden Kreise einführten, oder auch auf Informanten, von denen sie Einzelheiten erfahren konnten. Fotografien illustrierten zunächst Lichtbildervorträge, bevor sie in Büchern verwertet wurden und auf ein größeres Publikum trafen. Die Daguerreotypien von Richard Beard mussten zeichnerisch umgesetzt werden, bevor sie 1851 als Bildbeigaben in dem Buch London Labour and the London Poor von Henry Mayhew Verwendung finden konnten. Vermutlich waren es die ersten fotografischen Aufnahmen, mit denen Menschen im Elend festgehalten worden sind.
            Vor allem sind in dem etwas uneinheitlich geratenen Begleitband einige aufschlussreiche Texte enthalten, die nicht nur die medialen Fakten referieren und ästhetische Komponenten aufgreifen, sondern auch weitergehende Überlegungen anstellen. Dazu gehören die Ausführungen von Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner zu den „Wiener Vorstädte[n] um 1900“, in denen u.a. die Figur des „Gehetzten“ als Pendant und Gegenfigur zu Walter Benjamins Flaneur kreiert wird. Siegfried Mattl identifiziert die Sozialreportage als Projektionsfläche für unterschiedliche Bedürfnisse: sie wirke bedrohlich für jene Schichten, die in ständiger Angst vor dem sozialen Abstieg leben, und bestätigend für andere, die in der Offenlegung der Missstände die Notwendigkeit steter Kontrolle durch die bestimmenden Instanzen sehen. Nicht zuletzt greift Rolf Lindner im einleitenden Beitrag die Frage der Überschreitung der Klassengrenzen auf, wenn sich die „social explorers“ für ihre Expeditionen verkleiden und mit dem „Elendskostüm“ gewissermaßen ihre Vorurteile vor sich hertragen.
            Beim Verlassen der Ausstellung wie auch nach der Lektüre des Kataloges habe ich mich in einer zwiespältigen Stimmung befunden: einerseits angeregt von der Vorführung ganz differenter Ansätze und Methoden der Aufdeckung von Elend im Zuge eines Jahrhunderts. Zum anderen bleibt das Objekt all dieser medialen Anstrengungen weitestgehend im Dunklen, verdeckt von den Bildern, die mittels Sprache, Pinsel, Stift oder Apparatur entworfen worden sind. Oder polemisch ausgedrückt: Die bunten Botschaften haben ihren Gegenstand in allen möglichen Farben erscheinen lassen, ohne dass dessen Gestalt und Umfang sichtbar geworden wäre. Als ob jemand durch prismatische Gläser auf ein weit entferntes Territorium blickt, von dem zwar wenig zu erkennen ist, er sich aber mit dem farbigen Spektrum begnügt, das an den Rändern durch die einfallenden Lichtstrahlen hervorgerufen wird.

Juni 2007

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© Timm Starl 2007

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