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Fotokritik

 

Timm Starl
Von der Stille, die zu sehen ist

Gerhard Roth
Atlas der Stille
Fotografien aus der Südsteiermark von 1976–2006
Hrsg. von Daniela Bartens und Martin Behr in Zusammenarbeit mit dem Franz Nabl-Institut Graz und dem Kulturhaus St. Ulrich im Greith
Mit Textbeiträgen von Daniela Bartens, Martin Behr, Frido Hütter, Gerhard Roth, Wendelin Schmidt-Dengler, Uwe Schütte, W. G. Sebald und Helena Wallner
Wien, München: Christian Brandstätter, 2007
28,5 : 25 cm, 304 S., 740 Abb., fast ausschließlich in Farbe
Gebunden, Schutzumschlag
€ 49,90

Atlas sei ein Fremdwort, versichert der Duden , mit mehreren Bedeutungen, darunter auch jene von einem „Gewebe mit hochglänzender Oberfläche in besonderer Bindung“. [1] Was – sieht man vom Gewebe ab – hinsichtlich der Ausstattung auf das vorliegende Buch zutrifft, dessen Bilder mit Lack versehen sind, damit sie sich auf dem matten Papier hervortun, und zu dessen Qualität gehört, dass es eine Fadenheftung zusammenhält. Atlas hieße aber auch eine mythologische Figur, jener Riese, „der das Himmelsgewölbe trägt“, was zu dem „mythopoetische[n] Verfahren“ [2] passt, das Gerhard Roth von W. G. Sebald attestiert wird, wenn dieser in dem Roman Landläufiger Tod von 1984 die ganze Welt in einem Dorf erstehen lässt. Dabei spielt das Firmament eine besondere Rolle, wenn der Sohn des Bienenzüchters in sein Tagebuch einträgt: „Stundenlang schaue ich aus dem Fenster in den gelben Himmel, auf dem schwarze Wolken stehen, die Löcher zu sein scheinen (durch welche man möglicherweise in den Kosmos eindringen kann).“[3] Dazu muss man bloß, was Roth den Imkersohn allerdings nicht aufschreiben lässt, das Sprachbild ins Negative wenden, also einen Schritt zurück gehen und damit die Zeit aufheben, mit einem Wort: fotografisch denken – dann würden aus schwarzen Wolken helle Einlässe, womit der Weg zu den Sternen offen steht.
             Über dieses Bild vermag man zu einer anderen Seite des Atlas' gelangen, die sich – wieder laut Duden – als „Sammlung von Bildtafeln aus einem Wissengebiet in Buchform“ erweist. Zu vernachlässigen seien hier die physiologischen und kartografischen Seiten – die des Halswirbels und jene des Atlanten –, denn die erste führt wiederum zu dem bereits erwähnten Riesen, und die zweite zu einer besonderen Art von Bildern, die – wenn auch grafisch illustriert – gleichfalls in Buchform auftreten. Es hätte selbstverständlich keiner metaphorischen und assoziativen Schlingungen bedurft, um die Wortwahl des Verlages oder der Herausgeber für eine Bildsammlung als treffend anzuerkennen. Doch wer immer den Buchtitel gewählt hat, es sollte ihm oder ihr zugebilligt werden, mehr als eine Bedeutung von „Atlas“ bedacht zu haben. Zumal auch mit der „Stille“ mehrere Aspekte berührt werden, nämlich jene der Fotografie, die eine stumme Kunst ist, und der Sprache, deren schriftliche Form gleichfalls lautlos daher kommt. Einer anderen Stille ist Gerhard Roth in dem Dorf, wo er Jahre lang gewohnt hat, begegnet . „Das bemerkenswerteste ist die Stille. Wenn man sich nur eine Weile hier aufhält, ahnt man kaum, wie durchdringend und groß sie sein kann.“[4] Diese besondere Stille erwähnt Roth in der ersten Buchveröffentlichung seiner Fotografien von 1981 und zeichnet sie noch schärfer drei Jahre später im Landläufigen Tod : „Jetzt aber (im trägen Licht des ausgehenden Frühjahres) unterbricht nur das Pochen der Herzschläge von Maulwürfen die Stille.“ [5] Denn es zeichnet eine solche Stille aus, dass sich mit ihr die Sinne ins Unermessliche erweitern und die Gedanken zu fliegen beginnen, man hört, was von niemandem sonst zu vernehmen ist, und erblickt, was für alle unsichtbar ist. Und insofern ist Atlas der Stille ein wunderbarer Titel für ein bemerkenswertes Buch.
Gerhard Roth, 1942 in Graz geboren, beginnt dort 1962 ein Medizinstudium und ist daneben künstlerisch tätig, zunächst als Schauspieler, dann als Autor von Theaterstücken. 1967 wird das Studium abgebrochen, und Roth arbeitet bis 1977 in einem Rechenzentrum, danach als freier Autor. Die erste literarische Veröffentlichung erscheint 1972, zu fotografieren beginnt er 1973 auf einer USA-Reise. Von 1977 an lebt der Schriftsteller in Obergreith, einem Ort in den südwestlichen Steiermark, 1986 übersiedelt er nach Wien, wo er bis heute seinen ersten Wohnsitz hat; im Jahr darauf erwirbt er ein Bauernhaus in Kopreinigg in der Südsteiermark.

 

Gerhard Roth
Ohne Titel, Seite aus: Gerhard Roth, On the Borderline | Grenzland. A Documentary Record |
Ein dikomentarisches Protokoll
, Wien: Hannibal, 1981, S. 55

 

              Roth ist ein Schriftsteller, der sich fotografisch Notizen macht. „Nur wenn ich eine Wahrnehmung mit dem Wunsch verband, mich später erinnern zu wollen“, schreibt er 1990 rückblickend, „war es ein Bild, das ich machen wollte.“[6] Er würde sich besser merken, was er fotografiert hatte. Später entstehen auch Bilder, ohne dass abzusehen ist, ob und wofür er sie einmal benötigen würde. Roth hat also gemerkt, dass alles, was um ihn ist, für das Schreiben bedeutsam sein könnte. Kein Objekt ist zu gering, keine Person zu fremd, keine Kleinigkeit zu banal, kein Geschehen zu alltäglich. Man gehe möglichst direkt auf das Objekt zu und nahe an alles heran, was ins Auge fällt. So liegen die Erscheinungen immer offen und befinden sich in der Mitte der Bilder.
             Fotografiert wird, was “nebensächlich und selbstverständlich ist oder diesen Anschein erweckt.“ Gesichter, spielende Kinder, Arbeitsszenen, lebende und tote Tiere, Hochzeiten und Begräbnisse, Blätter, Beeren, Äcker und Wiesen, Holzstapel, Jagd und Schlachtung, Pilze, Mauern, Tankstellen, Eisblumen, der Himmel. Alles wird aufgenommen, wie es ist, Roth hat es nicht auf eine bestimmte Situation abgesehen, lässt die Menschen niemals posieren: „Inszenierte Fotografie fand und finde ich lächerlich [...]“ Es entstehen – könnte man sagen – schnörkellose, geradlinige, ruhige Bilder, die sich einer besonderen Aufmerksamkeit verdanken. Diese entspringt einem Warten, das auf keinen Zeitpunkt und auf kein Ereignis gerichtet ist: Als wäre der Augenblick anzuhalten, wenn etwas umschlägt – von laut zu leise, von hell zu dunkel; wie der Moment des Hochsprunges, der am Zenit angelangt ist, an dem es kein Hinauf mehr und noch kein Hinab gibt. Die Welt hält den Atem an. Es ist eine andere Schönheit, die aus den Aufnahmen von Roth spricht, und sie lässt sich kaum in Worte fassen. Sie hat mit dem Leben zu tun, mit der Liebe zu den kleinen Dingen, mit dem Traum von dem, was zu sehen ist, aber auch mit einer kritischen Betrachtung, die viele Blickwinkel sucht und Hierarchisierungen ablehnt.
            Für den Schriftsteller sind die Aufnahmen „ein Erinnerungsspeicher außerhalb meines Kopfes“. Er schaut die Bilder „oft an, und allmählich entsteht ein Abbild und Gegenbild der Wirklichkeit in meinem Kopf.“[7] Es ist der Humus, aus dem er seine Kraft bezieht, doch benötigt er beim Schreiben weder die schriftlichen noch die fotografischen Aufzeichnungen. Die Erinnerung hat sich über die Bilder gelegt und sie verändert diese, und die neuen, die Gedächtnisbilder schieben sich vor die Erinnerung und geben den Fundus ab, aus dem die Sprache ihre Bilder formt. Schreiben bedeutet ja auch etwas wie Beharren auf der Zukunft, ein Wegschieben des Vergangenen, ein Vorwärtsdrängen. Die Fotografie richtet dagegen ihr Augenmerk immer auf eine Gegenwart, die bereits vorbei ist, wenn der erste Blick das Bild trifft. Gleichwohl haben Literatur und Fotografie etwas Gemeinsames: sie gründen auf dem Gewesenen, das sie unkenntlich machen mit ihren Bildern – so präzise diese auch verfasst worden sind –, oder besser: ins Ungefähre rücken mit den je eigenen Perspektiven und Verzerrungen.

 

Gerhard Roth
Ohne Titel, 1/3 Seite aus: Gerhard Roth, Die Photo-Notizbücher ,
hrsg. von Robert Weichinger, Wien, New York: Springer, 1995, S. 70

 

      Die dem Bildteil umrahmenden Texte zum literarischen und fotografischen Schaffen Roths bieten Hilfestellung bei der Erkundung des Werks, am prägnantesten die Auseinandersetzung von Sebald aus dem Jahr 1991. Die Bilder sind nach Themen und Motivgruppen zusammengestellt, was einer konventionellen Lesart zugute kommt, die ihre Ordnung benötigt. Sie entspricht weder der Reihenfolge ihres Entstehens, noch lässt sie Rückschlüsse auf den Gebrauch durch den Autor zu. Die Abbildungen sind weder mit Orts- oder Zeitangaben ausgewiesen, noch werden die Personen und Gegenstände identifiziert. Das ist auch nicht notwendig, denn Namen und Daten würden keinen Weg zu den Veröffentlichungen von Gerhard Roth eröffnen. Nur so mag man verstehen, dass am Beginn des Tafelteils vermerkt ist: „Für detaillierte Bildbeschreibungen zu den einzelnen Themenbereiche des folgenden Bildteils vgl. Gerhard Roth: Im tiefen Österreich. Zweiter Teil: Aus meinen Fotonotizbüchern . Frankfurt/M.: S. Fischer 1990. S. 93–119“. Auch erübrigt sich die Suche nach Entsprechungen in den Kompositionen früherer und lebender Fotokünstler, die lediglich zu ähnlichen Themen und Motiven führen würden, oder in den Hervorbringungen von Schriftstellern, deren eigene Aufnahmen sie zu ganz anderen Kreationen ermutigen.

 

Gerhard Roth
Ohne Titel, Seite aus: Gerhard Roth, Atlas der Stille ,
Wien, München: Christian Brandstätter, 2007, S. 147

 

      Wer nämlich den Bildern nahe kommen möchte, benötigt nicht deren Kennzeichnung und Vergleichsmaterial, sondern sollte sich in die Labyrinthe des großartigen Romans Landläufiger Tod begeben, worin die Orientierung umso leichter fallen wird, wenn zuvor die Fotografien angesehen worden sind und man sie sich immer wieder vor Augen hält. Es empfiehlt sich eine abwechselnde Lektüre von Textpassagen und Fotografien, zumal ein häufiges Einhalten ohnehin geboten ist: Zu viele und zu vielfältige Eindrücke stürzen auf den Leser und Betrachter zu, als dass er ihnen kontinuierlich folgen könnte. Und auch – im Sinne Gerhard Roths: „An winterheißen Tagen bilden die Dorfbewohner eine Pyramide und fliegen unter dem sanften Blau des Himmels“[8] Es stimmt, ich habe sie beobachten können, sogar hier, im Weinviertel, an einem sonnigen Tag im April.

1 Hier und im Folgenden zitiere ich aus: Duden. Fremdwörterbuch , Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag, 5 1990 (Duden Bd. 5).
2 W. G. Sebald, „In einer wildfremden Gegend. Zu Gerhard Roths Roman ‘Landläufiger Tod'“ (1991), in dem besprochenen Band, S. 10-14, hier S. 11.
3 Gerhard Roth, Landläufiger Tod. Roman , Frankfurt am Main: S. Fischer, 1984, S. 716 f.
4 Gerhard Roth, On the Borderline | Grenzland. A Documentary Record | Ein dokumentarisches Protokoll , Wien: Hannibal, 1981, S. 8.
5 Roth, (Anm. 3), S. 386.
6 Gerhard Roth, „Eine Expedition ins tiefe Österreich. Über meine Fotografie“ (1990), in dem besprochenen Band, S. 7-9, hier S. 7, und ebenda die folgenden Zitate.
7Helena Wallner, „Die Schönheit im nebensächlichen Erfahren. Interview mit Gerhard Roth“, in dem besprochenen Band, S. 271-272, hier S. 271.
8 Roth, (Anm. 3), S. 142.

Mai 2007

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© Timm Starl 2007

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